DORIS AKRAP LEUCHTEN DER MENSCHHEIT: Hüben ist manchmal wie drüben
Gerade komme ich aus einem südosteuropäischen Land zurück, das erst im nächsten Jahr 20-jähriges Bestehen feiert. Doch die politische Großwetterlage drüben unterscheidet sich kaum von der hüben. Auch dort streitet man sich darüber, dass immer noch nicht richtig zusammengewachsen ist, was zusammengehört (die einen halten mutmaßliche Kriegsverbrecher für Helden, die anderen für ein Hindernis auf dem Weg in die EU).
Gut, jenes Land hatte keine Sarrazin-Debatte, was aber eher daran liegt, dass man dort die meisten Ausländer schon vor 20 Jahren vertrieben hat, eine Tat, die man bis heute nicht für ein Verbrechen, sondern für einen notwendigen Schritt hält. Der befehlshabende General dieser ethnischen Säuberung steht derzeit vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal. Falls er verklagt wird, so der Tenor in dem Land, müsste die ganze Bevölkerung in den Knast und die Staatsgründung im Ganzen als ein Verbrechen bezeichnet werden. Ganz falsch ist diese Einsicht nicht.
65 Jahre nach Kriegsende und 20 Jahre nach der Einheit fallen revisionistische Aussagen in Deutschland in der Regel nicht mehr auf solch fruchtbaren Boden. Grundsatzfragen zur Anerkennung von Schuld und Verantwortung für die Verbrechen im NS wurden ausgiebig geführt. Doch die Mechanismen und Begriffe der „partikularen Ethik“ im NS seien nicht alle plötzlich verschwunden, schreibt Raphael Gross in seinem gerade erschienen Buch „Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral“ (S. Fischer, 2010).
Als vergangene Woche das Bundesverfassungsgericht verkündete, dass es im Sinne der Meinungsfreiheit sei, wenn jemand von einer „deutsch-jüdischen Symbiose unterm Hakenkreuz“ rede und davon, dass die Mehrheit der Deutschen in der Nazizeit nicht antisemitisch eingestellt gewesen war, wusste ich also kurzzeitig nicht mehr, ob ich mich nicht doch noch auf dem Balkan befinde.
■ Die Autorin ist Kulturredakteurin der taz Foto: privat
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