piwik no script img

Von den Winden verweht

Haile Gebrselassie, dem einstmals besten Langstreckler auf der Bahn, gelingt in Berlin ein großartiger Marathonlauf. Den Weltrekord indes verfehlt der Äthiopier um 61 Sekunden

Aus Berlin Lars Jeschonnek

„Noch eine Minute – one minute“, ertönt es aus den Lautsprechern auf der Straße des 17. Juni. „Presse weg!“, brüllen die Ordner. Die Fotografen drängeln. Nur der kleine Mann, der den ganzen Trubel auslöst, steht locker da. Und lächelt. Gleich geht es los. Haile Gebrselassie nimmt sich sogar noch Zeit für ein Erinnerungsfoto mit einem Hobbyläufer im Rentenalter.

Die äthiopische Lauflegende tritt an, um den 33. Berlin-Marathon zu gewinnen. Nach Möglichkeit in Weltbestzeit. Es wäre sein insgesamt 22. Weltrekord. Im Grunde muss er diesen Weltrekord noch schaffen. Seine einzigartige Karriere ließe kein anderes Ende zu. Jahreland dominierte er die Langstrecke auf der Bahn, wurde über die zehn Kilometer viermal Weltmeister und holte zwei olympische Goldmedaillen. Seine Laufbahn bot magische Momente. Die olympischen Rennen in Atlanta und Sydney zum Beispiel, als er sich packende Duelle mit dem Kenianer Paul Tergat lieferte.

Nachdem Landsmann Kenenisa Bekele seinem Vorbild Gebrselassie auf der Bahn den Rang abgelaufen hatte, wechselte dieser zum Marathon. Dort hält der alte Rivale Tergat seit 2003 den Weltrekord. 2:04:55 Stunden ist Tergat damals in Berlin gelaufen. Gebrselassie hat Tergat immer geschlagen. Er muss sich also auch diesen Rekord holen. In London im Frühjahr lief Gebrselassie enttäuschende 2:09:05 Stunden, wurde nur Neunter. „Ist er zu alt, seine Zeit vorbei?“, fragten manche Journalisten. In Berlin würde es keine neuerliche Pleite geben dürfen.

Bei einer Pressekonferenz des Veranstalters am Freitag belagerten Medienvertreter den Äthiopier, als er das Podium verließ, drängten ihn gegen eine Videowand. Es war selbst dem ewig Lächelnden zu viel. Er verschrenkte die Arme, blickte ernst. Für den Mann, der mit geradezu spielerischer Leichtigkeit einen Marathon rennt, sind solche Termine harte Arbeit. „Ich werde mein Bestes geben und jede Zeit akzeptieren“, sagte er knapp auf die Frage, ob er in Rekordform sei, und schaute rüber zu einem Laufband, auf dem ein junger Kerl für einen Sponsor Reklame lief. Gebrselassie hätte wohl gerne mit ihm getauscht.

Die Siegessäule liegt glänzend in der Morgensonne, als der Startschuss ertönt. Es ist vielleicht schon ein bisschen zu warm. 15,8 Grad zeigt das Thermometer. Wenigstens ist es trocken. In London hatte Gebrselassie mit dem nassen Asphalt zu kämpfen – der Horror für einen Vorderfußläufer wie ihn.

Haile Gebrselassie strahlt. 42.195 Meter, die er laufen muss, die er laufen darf. Jetzt ist er ganz bei sich. Wie damals im äthiopischen Hochland, in der Region Arsi, als er jeden Morgen zehn Kilometer zur Schule lief und jeden Nachmittag zehn Kilometer zurück, als er den Tieren der Familie auf der Weide nachjagte, als er einfach lief, wenn der Vater ihn mal wieder geschlagen hatte. Bei allem Rummel, aller wirtschaftlichen Bedeutung hat sich Gebrselassie diese Ursprünglichkeit des Laufens bewahrt.

Jetzt gehört Berlin ihm. Er schwebt durch die Straßen, anfangs begleitet von den Tempomachern und Sammy Korir aus Kenia, seinem schärfsten Konkurrenten an diesem Tag. Bei der Halbmarathon-Marke ist Korir nicht mehr in der Spitzengruppe. Die Uhr zeigt 1:02:48 an, 18 Sekunden mehr als geplant, aber 13 Sekunden weniger, als Tergat bei seinem Rekordlauf brauchte. Gebrselassie will es wissen. Kurz vor Kilometer 30 läuft er allein. Als einziger Gegner ist die Uhr geblieben. Zwischenzeitlich liegt er 28 Sekunden unter Tergats Zeit. Auf den Schlusskilometern macht ihm der wechselnde Wind zu schaffen. Auf den letzten Metern eskortieren die rund 5.000 Zuschauer in der Straße Unter den Linden ihren König mit lautem Jubel ins Ziel. 2:05:56 Stunden. Es hat nicht gereicht. 61 Sekunden zu langsam. Aber Gebrselassie weiß nun: Er kann es schaffen, in dieser Form ist er auch Favorit für den Marathon bei den Olympischen Spielen in Peking 2008.

Ein kurzer Kuss von Bruder Tekeye, eine Mini-Ehrenrunde durch den Zielbereich. Und schon zerren wieder unzählige Helfer und Pressemenschen an dem kleinen Laufwunder herum. Während er für Fotos posiert, zieht ihm ein Mann von der Rennleitung den Schuh aus, weil der Chip mit dem eingebauten Zeitmesser gebraucht wird. Haile Gebrselassie guckt gequält. Er muss jetzt arbeiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen