MISSVERSTÄNDNIS: Castingallee
Eigentlich wollte ich nur frühstücken. Den obligatorischen Laptop herumschleppend, lasse ich mich also durch den Prenzlauer Berg treiben, der leichte Schubser einer Rentnerin schickt mich nach links, das aggressive Bellen eines Straßenköters lässt mich nach rechts abdriften. Aber wie es nun mal so ist: Alle Wege führen zur Kastanienallee. Die Augen sind noch nicht ganz auf, die Sonnenbrille ist sehr dunkel, und das Cafe meiner Wahl nur noch wenige Schritte entfernt.
Plötzlich ein Pulk aufgeregter junger Menschen, alle besonders unansehlich gestylt, nervös von einem Fuß auf den anderen trippelnd, einige röhren wie die Hirsche vor sich hin. Ist hier heute etwa ein Justin-Bieber-Konzert? Und wer zur Hölle ist eigentlich dieser Justin Bieber?
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite filmt ein aus den üblichen drei Verdächtigen bestehendes Kamerateam (der punkige Kameramann, der nach gescheitertem BWL-Student aussehende Tonmensch und ein Redakteur mit weißem Schal und iPhone G4) einen jungen Mann mit Gitarre. Dieser singt für eine Schar Cafesitzer, die wiederum gar nicht gefilmt werden wollen, fast jeder Zweite hier ist selbst irgendwie prominent oder zumindest auf dem Weg dorthin.
Zehn Meter weiter stehen ein paar Mädchen im Kreis und singen. Zum ihrem Glück wohnen sie nicht in Essen, dort soll nämlich jetzt eine Solariumsteuer eingeführt werden, und man sieht den fünf Grazien an, dass sie schon genug Taschengeld in die Sonne spendenen Röhren investieren, eine Preiserhöhung würden sie wohl kaum stemmen können.
„Ein Königreich für ein paar Scheuklappen“, rufe ich und frage mich dann, welcher besonders schlaue Fuchs von RTL auf den grandiosen Einfall kam, das Vorsingen für Dieter Bohlens „Deutschland sucht den Superstar“ ausgerechnet in der „Castingallee“ anzusiedeln. What a gag! JURI STERNBURG
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