: Wer nicht auffällt, kommt zu kurz
Die taz begleitet Schülerinnen und Schüler einer Tempelhofer Hauptschule bis zu ihrem Abschluss im Sommer. Trotz guter Lehrerausstattung dort ist es schwer, jedem Schüler im Unterricht die nötige Förderung und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Beim Kochen für die Schülerfirma blühen viele auf
von ALKE WIERTH
Sven nervt mal wieder. Seine Fragen sind bohrend, seine Kommentare spitz. Viele in der Klasse 10/3 der Werner-Stephan-Oberschule (WSO) hören schon weg, wenn Sven loslegt. Ins Theater gehen mit der Klasse – schön und gut. Aber ist das nun eine Schulveranstaltung oder eine private? Dann dürfte er nämlich rauchen. „Dein Betreuer hat mir doch erzählt, du hättest aufgehört?“, fragt Klassenlehrerin Ruth Jordan. Doch Sven hat nicht durchgehalten. Er hat Stress. Der 17-Jährige hat vor kurzem eine eigene Wohnung bezogen. Sein Betreuer soll ihm helfen, mit der Verantwortung für ich selbst klarzukommen.
„Sven ist ein gutes Beispiel dafür, wie genau man als Lehrer abwägen muss, wie weit man sich auf eine persönliche Beziehung zu seinen Schülern einlassen möchte“, sagt Klassenlehrerin Jordan, und verbessert sich gleich: „Ich habe eigentlich zu allen meinen Schülern eine persönliche Beziehung.“ Aber Sven – da sei es ihr manchmal schwergefallen, die nötige Distanz zu wahren: „Ich habe von Anfang an seine Bedürftigkeit gespürt.“ Schon als Kind sei der junge Mann immer wieder von Erwachsenen enttäuscht worden. Nun erzwingt er Aufmerksamkeit – zum Beispiel, indem er mit unzähligen Fragen nervt.
Lernen in Kleinstgruppen
Nicht alle in der Klasse 10/3 der Tempelhofer Hauptschule können dem Tempo von Svens Fragenfeuerwerk folgen. „Er ist mit Sicherheit einer der Klügsten in der Klasse“, sagt Ruth Jordan. Sebastian reibt sich gähnend die Augen, Johannes’ Kopf liegt auf dem Tisch, Katrin plaudert mit ihrem Banknachbarn Arafat, und Julias Blick wandert glasig in Traumreiche. „Wir haben an unserer Schule die Möglichkeit, uns um einzelne Schüler viel mehr zu kümmern als viele andere Schulen“, sagt Lehrerin Jordan, die auch stellvertretende Leiterin der Werner-Stephan-Oberschule ist. Dennoch kämen die Stilleren, Unauffälligeren gegenüber solchen wie Sven, die Aufmerksamkeit einfordern, oft zu kurz. Daraus entstünde auch psychischer Druck für die Lehrkräfte: „Wir haben ja die Verantwortung für die ganze Klasse“, sagt Jordan.
Die ganze Klasse, das sind 16 SchülerInnen. In der Biologiestunde sitzen davon nur 8, die anderen haben Chemie. Und die Biogruppe wird noch mal geteilt: An den Bänken sitzen Dennis, Robert, Julia, Katrin und Sebastian und lernen mit Frau Jordan das Herz-Kreislauf-System. An einem großen Tisch in der Ecke üben Nina, Francesca und Sarah mit zwei Betreuerinnen anhand von Malbögen die Unterschiede zwischen Obst, Gemüse und Getreide ein. Sie sind Integrationskinder – oder ganz korrekt: „Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“. Nina und Sarah haben das Down-Syndrom, Francesca gehört eigentlich nicht zu den Integrationsschülern. Sie hat bloß Probleme mit dem Lesen und dem Schreiben, begreift manches etwas langsamer als die anderen. Ihre Aufmerksamkeit pendelt zwischen den Gruppen hin und her. Die Fünfergruppe versucht gerade, einen Text zum Thema Herzinfarkt zu verstehen. „Verengung“ – dieses Wort sagt der Neuen in der Klasse, Julia, noch nichts. Sie ist erst vor Kurzem aus Kasachstan nach Berlin gekommen. Die Spezialklasse für Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache wollte Julia nicht besuchen. In Kasachstan war sie auf einem Gymnasium.
Statt „Verengung“ Stau
Sie ist nicht die Einzige mit Sprachproblemen: Auch Katrin versteht manche Worte nicht. Die 15-Jährige lebt erst seit fünf Jahren in Deutschland. Zuvor ist sie bei der palästinensischen Familie ihres Vaters im Libanon aufgewachsen, mit ihrer polnischen Mutter und ihren Geschwistern. Die Familie spricht Arabisch miteinander. Deutsch spricht Katrin in Hochgeschwindigkeit: Als hoffe sie, ihre kleinen Grammatikfehler würden so überhört.
Es ist Robert, der den anderen erklärt, was „Verengung“ ist: am Beispiel eines Autostaus. Auch Robert hat Sprachprobleme. Nicht, dass er nicht versteht. Er wird schlecht verstanden. Robert spricht, als sei es ihm manchmal peinlich, was er alles weiß. Dabei ist er einer der wenigen Schüler, der sich mit eigenen Beiträgen und Ideen im Biologieunterricht zu Wort meldet.
Ein Arbeitsblatt haben die fünf SchülerInnen in der Biostunde geschafft. Nun beginnt der Deutschunterricht, diesmal für alle gemeinsam. Doch bevor es losgeht, berichten Johannes und Sandy, die Klassensprecher, von der letzten Schülerversammlung. „Wir sind die einzige Klasse, die das Schulversprechen noch nicht unterschrieben hat“, mahnen die beiden und lesen dessen Klauseln laut vor.
„Handys müssen im Unterricht ausgeschaltet werden“, heißt es da, aber auch, dass Drogen, Waffen und Gewalt an der Schule verboten und alle Schüler zu respektieren sind: „Egal, welche Herkunft oder Behinderung sie haben.“
Sandys Ton wird resolut. Gerade hat es an der Schule einen Vorfall gegeben, über den sie sich sehr geärgert hat. Eine 8. Klasse hat ihre beiden Integrationsschüler zu Klassensprechern gewählt, obwohl das den Satzungen nach gar nicht geht. Es sollte ein Scherz sein. Aber die beiden haben sich sehr gefreut, zu Hause stolz von ihrer Wahl berichtet. Die sonst so ausgeglichene Sandy ist sauer: „Sollen die Eltern denn denken, ihre Kinder werden bei uns verarscht?“
Sandy ist nicht nur Klassensprecherin. Sie ist auch im Schülerrat, der sich solcher Fälle annimmt: Wenn die SchülerInnen ein Problem unter sich lösen können und nicht unbedingt die Lehrer einbezogen werden müssen. An der Werner-Stephan-Schule sind über ein Viertel der Kinder ausgebildete Streitschlichter. Auf einen freundlichen und respektvollen Umgang miteinander legen die SchülerInnen großen Wert.
„Das hier ist eine gute Schule“, meint Arafat deshalb. Auch er ist neu in der Klasse 10/3. An seiner alten Kreuzberger Hauptschule habe es zu viel Gewalt gegeben, meint der 17-Jährige. An der Werner-Stephan-Oberschule schützt davor unter anderem das Schulversprechen, das jährlich von den KlassensprecherInnen neu ausgearbeitet und von allen SchülerInnen der WSO unterschrieben wird.
Nun auch von denen aus der 10/3 – Klassensprecherin Sandy ist mit dem Vorlesen fertig und reicht das Blatt mit dem diesjährigen Schulversprechen herum. Dann kann der Deutschunterricht beginnen. Die Klasse liest derzeit die Autobiografie Inge Deutschkrons: „Ich trug den gelben Stern.“ Das Schicksal der Berliner Jüdin, ihre Schulzeit unter den Nazis interessiert die Schüler. Dass sie manche der Orte kennen, von denen die Rede ist, bringt ihnen die Schilderung der Vergangenheit näher.
Der Vorschlag der Klassenlehrerin, das auf dem Buch beruhende Stück im Grips-Theater zu besuchen, findet nicht nur deshalb Anklang: Die Klasse mag gemeinsame Unternehmungen. Nur Dennis will lieber nicht mit: Theater interessiere ihn nicht so, sagt der stille blonde Junge mit der Bodybuilder-Figur. „Er will lieber trainieren“, meinen die anderen. Doch sie sind sicher, ihn auch noch überreden zu können. Und Dennis wird schon weich. Es freut ihn wohl, dass die anderen ihn dabei haben wollen.
Arbeit ist besser als Schule
Am nächsten Tag gibt es keinen Unterricht. Freitags ist Schülerfirma, und fast alle aus der Klasse 10/3 sind im Restaurant der Firma beschäftigt. In der Küche oben unter dem Dach der Schule bereiten sie das Mittagessen für diejenigen vor, die in anderen Abteilungen der Schulfirma Bilderrahmen, Vogelhäuschen oder elegante Paravents herstellen, sich um den Vertrieb dieser Produkte kümmern oder als gewählte AbteilungsleiterInnen neue Projekte entwickeln. Heute gibt es Penne Arrabiata, Gurkensalat und Bananenquark, das Menü kostet für Schüler 2 Euro. Um die Nachspeise kümmern sich Nina und Sarah, die beiden Mädchen mit Down-Syndrom. Eine Betreuerin hilft ihnen dabei.
Bei der Arbeit in der Küche wirken manche der Schüler und Schülerinnen wie ausgewechselt. Der schüchterne Dennis ist hier in seinem Element. Für gesunde Ernährung interessiere er sich sehr, erzählt der sportliche Junge. Koch will er werden, ebenso wie Sebastian, der aufmerksam wie ein Restaurantmanager das Geschehen in der Schulküche im Blick hat. Ihr nächstes Praktikum machen die beiden in einer Bäckerei. Dass sie dafür um vier Uhr früh aufstehen müssen, schreckt sie nicht: „Hauptsache ist, man hat Arbeit!“
Arbeiten ist besser als Schule – so denken einige in der 10/3, der Abschlussklasse der Werner-Stephan-Oberschule. Richtig darüber freuen, dass die Schulzeit bald vorbei ist, kann sich bisher nur Stephan. Der 16-Jährige kann wahrscheinlich eine Ausbildung anfangen – in der Firma seines Vaters: „Wenn es keinen besseren Bewerber gibt!“, sagt er. Die anderen hoffen auf das nächste Praktikum, das nach den Herbstferien beginnt. Vor allem Sandy, die Klassensprecherin, ist froh: Sie hat einen Praktikumsplatz bei C & A bekommen, – eine echte Chance, dort zu zeigen, dass auch HauptschülerInnen etwas können.
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