WENIG BEKANNTE POLITISCHE ATTENTÄTER UND IHRE MOTIVE: Schuld und Sühne
MICHA BRUMLIK
Am 15. März 1921 erschoss der Armenier Solomon Tehghirijan in der Berliner Hardenbergstraße den ehemaligen, inzwischen exilierten osmanischen Innenminister Talaat Pascha. Teghirijan wollte mit diesem Anschlag den jungtürkischen Genozid an den Armeniern, bei dem er viele Familienmitglieder verlor und auch selbst schwer Verletzungen erlitt, rächen. Ein Berliner Gericht sprach ihn später wegen „Schuldunfähigkeit“ frei. Tehghirijan starb 1960 in San Francisco.
Am 7. November 1938 erschoss der polnische Jude Herschel Grynszpan in Paris den deutschen Botschaftsangestellten Ernst vom Rath, der 1932 in die NSDAP eingetreten war. Grynszpans Motiv: Die Deportation und Abschiebung polnischer Juden von Deutschland ins Niemandsland vor der polnischen Grenze.
Der Anschlag war Anlass, nicht Auslöser für die von den Nationalsozialisten generalstabsmäßig geplanten Pogrome und Synagogenbrände am 9. November 1938, die als „Reichskristallnacht“ bekannt wurden. Nach Verhaftung und Flucht wurde Grynszpan nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 gefasst und 1942 im KZ Sachsenhausen ermordet.
Tod eines Warlords
Ein weiteres Attentat hat bisher nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Am 25. Mai 1926 erschoss Scholom Schwartzbard in der Pariser Rue Racine den exilierten ukrainischen Warlord Symon Petljura. Der jiddische, 1886 in Bessarabien geborene und dem Anarchismus zuneigende Dichter Scholom Schwartzbard diente von 1918 bis 1920 in der revolutionären Roten Armee und emigrierte 1920 nach Paris. Er begründete seinen tödlichen Anschlag auf Petljura mit dessen Verantwortung für die Pogrome, die die ihm unterstehende ukrainische Armee unter Juden in der Ukraine verübt hatte. So wurden im Februar 1919 in Proskurow in nur dreieinhalb Stunden 1.500 Juden von Kosaken massakriert, die vorher schwören mussten, Juden zwar zu töten, aber nicht zu berauben. Im März 1919 ermordeten ukrainische Truppen in Schytomyr mehr als 370 Juden – zu einem Zeitpunkt, als sich Hetman Petljura in Schytomyr aufhielt. Im August desselben Jahres – sechs Monate nach den Pogromen der ihm unterstellten Truppen – erließ Petljura, der persönlich kein Antisemit war, schließlich ein Dekret, wonach Teilnehmer an Pogromen aus der ukrainischen Armee entlassen und vor Gericht gestellt würden.
In diesem Zusammenhang hatte Petljura behauptet, dass alle jüdischen Parteien auf Seiten einer unabhängigen Ukraine stünden, was jedoch nicht der Wahrheit entsprach. Zudem – so der Historiker Matthias Vetter in seiner einschlägigen Studie „Antisemiten und Bolschewiki“ – habe Petljura einer jüdischen Delegation erklärt, sich der Pogrome wegen nicht mit seinen Truppen überwerfen zu wollen. Schwartzbard aber wurde in Paris vor Gericht gestellt und nach einer achttägigen Verhandlung mit 150 angehörten Zeugen, die über den Judenhass von Petljuras Truppen berichteten, freigesprochen. Mit der Begründung, er habe ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen.
Nach dem Prozess zog Schwartzbard in die USA, publizierte dort unter anderem den Gedichtband „In Krig – Mit sikh aleyn“ (Im Krieg – mit sich allein) und starb bei einer Reise nach Südafrika 1938 in Kapstadt an Herzversagen. Seine sterblichen Überreste wurden 1967 nach Israel überführt und in einem Moschaw bei Netanja beigesetzt. In Beerschewa, im Negev, ist ihm sogar eine „Straße des Rächers“ gewidmet. Scholom Schwartzbard ist heute ebenso vergessen wie die zwiespältige Gestalt des Mannes, den er umbrachte: Simon Petljura.
Anstatt Petljuras huldigt der nationalistische Teil der ukrainischen Maidan-Revolutionäre Stepan Bandera, der 1941, noch vor Einmarsch der Wehrmacht-Truppen, in Lemberg von seinen Truppen einen mörderischen Pogrom an 7.000 Juden verüben ließ. 2010 ernannte der damalige ukrainische Präsident Juschtschenko Bandera zum „Helden der Ukraine“.
■ Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler. Er lebt in Berlin
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