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Im Pennymarkt ein Gefühl von Heimat

Ungarn in Berlin: Das war lange die Geschichte einer unaufgeregten Fremdheit und nur manchmal von Trostlosigkeit und Kälte. 19 ungarische Autoren erzählen in dem Buch „Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen“

Die Zeiten des Berlin-Romans sind vorbei, mit Nachwendestorys im Berlin-Milieu sind heute keine Lorbeeren mehr zu gewinnen. Was sich dagegen mit unverwüstlicher Zähigkeit behauptet, ist die Berlin-Anthologie. Mit schöner Regelmäßigkeit trifft man auf kleine Bände, in denen verschiedenste Texte über das Hauptstadtleben zwischen zwei Buchdeckeln arrangiert werden.

Der Verlag Matthes und Seitz lässt in „Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen“ 19 ungarische Autoren zu Wort kommen, die im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte jeweils für ein Jahr vom DAAD nach Berlin eingeladen worden waren. In kleinen Erzählungen und tagebuchartigen Skizzen entwerfen sie ein Bild der Stadt, das mehr sein will als bloßes Resümee des Arbeitsaufenthalts in einem fremden Land.

Imre Kertész, György Konrád, Péter Esterházy oder Péter Nádas – das Verzeichnis der Autoren liest sich wie das Who’s who der ungarischen Gegenwartsliteratur. Im Vergleich zu dieser aufregenden Liste zeichnen sich die meisten Geschichten des Bandes durch Beschaulichkeit aus. Bis in Nachwendezeiten hinein muss vor allem das alte Westberlin eine Atmosphäre der Abgeschiedenheit ausgestrahlt haben, die dem Lebensgefühl der Autoren nicht allzu fern gewesen ist.

Die Suche nach einer wenn auch nur vorläufigen Heimat und das gleichzeitige Wissen um das Fremdsein ist das Grundmuster, das fast allen Texten unterlegt ist. Das kann anekdotische Form haben, wie bei Péter Esterházy, der von dem missglückten Versuch erzählt, in gebrochenem Deutsch die Ku’damm-Passanten auf einen Taschendieb aufmerksam zu machen, zu dem er schließlich selber abgestempelt wird. Oder wie bei Lászlo Darvasi, dem ein Kneipier durch stoisches Servieren der immer gleichen Getränkekombination eine Stammgastexistenz aufnötigen möchte, der sich aber im Bekenntnis zur inneren Freiheit durch ebenso stoische Variation seiner Bestellungen davor bewahren will. Dass er jeden Abend in die Kneipe zurückkehrt, beweist das Gegenteil.

Diese Ambivalenz von Vertrautheit und Fremdheit, die charakteristisch für die Texte ist, entspinnt sich auch an einzelnen Gegenständen oder Orten. „Manchmal“ heißt ein kurzer Text, in dem Zsolt Láng über die Momente des Glücks schreibt, wenn sich beim Durchqueren seiner Charlottenburger Hofdurchfahrt oder beim Einkauf im Penny-Markt ein Gefühl von Heimat einstellt.

Was aber bei aller Verbundenheit zum Alltäglichen dem Blick auf die Stadt die Unvoreingenommenheit nimmt, ist die deutsche Vergangenheit, die durch fast jede der ungarischen Berlin-Flanerien hindurchschimmert. Imre Kertész wurde 1944 nach Auschwitz deportiert. Knapp sechzig Jahre später steht er im Gedränge des Wittenbergplatzes und liest auf einer Tafel die Namen der Todeslager, in denen die Nationalsozialisten Millionen Menschen ermordeten.

Trotz der historischen und politischen Dimension vieler Beiträge, die diese Textsammlung von den allzu platten Geschichtchen über das Leben in Berlin unterscheidet, teilt auch diese Anthologie das Schicksal ihrer Vorgänger: Man wird sie schnell zu den Akten legen. Denn sie schafft nicht nur keinen ästhetischen Mehrwert. Sie schafft auch kein Bild der Stadt, obwohl es doch schon der Titel verspricht.

Vielleicht ergeht es einem mit diesem Buch ähnlich wie László F. Földényi bei seinem ersten Berlin-Besuch in den späten Siebzigerjahren. Angereist mit der Vorstellung der pulsierenden Metropole der Zwanzigerjahre, findet er sich in einem dämmrigen Badezimmer im Ostteil der Stadt wieder, draußen frisst die Kälte an den schäbigen Fassaden, und Földényi ist sprachlos über die banale Trostlosigkeit der Realität. WIEBKE POROMBKA

„Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen“. Matthes und Seitz, Berlin 2006, 254 Seiten, 18,80 €. Lesung am 11. 10. im LCB

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