: „Goethe ist übertrieben“
Identitätsverlust, LSD – das behandelt „Der Teufel von Mailand“, Martin Suters aktueller Roman. Ein Gespräch darüber, was man den berühmten Schweizer Schriftsteller schon immer mal fragen wollte
INTERVIEW CORINNA STEGEMANN
taz: Herr Suter, Sie haben Ihren ersten Roman „Small World“ mit 49 Jahren geschrieben. Haben Sie sich einfach hingesetzt und sich gesagt: So, ich schreibe jetzt einen Roman?
Martin Suter: Na ja, das erste Mal hab ich mich mit etwa 22 hingesetzt und mir gesagt: So, ich schreib jetzt einen Roman. Das habe ich dann weiterhin hin und wieder versucht, aber es ist mir lange nicht gelungen. Immer wieder wurde ich abgelenkt durch die Lebensnotwendigkeiten. Es ist nicht so einfach, einen Roman zu schreiben und gleich davon zu leben. Und ich habe auch immer wieder andere Dinge gemacht, Journalismus, Werbetexte, was man halt so tun kann, um vom Schreiben zu leben.
Und dann haben Sie sich aber wieder hingesetzt und „Small World“ geschrieben?
Vor „Small World“ habe ich mich auch schon mal wieder hingesetzt und einen Roman geschrieben. Der wurde aber abgelehnt, heute weiß ich: zu Recht.
Was war das für ein Roman?
Das war … hm … ach, ich rede eigentlich nicht so gerne darüber, er war auch noch nicht ganz fertig. Bei 300 Seiten habe ich mir gedacht: So, das schicke ich jetzt mal an den Diogenes Verlag. Ein paar Wochen später bekam ich ihn mit einer Standardabsage zurück. Aber ich wollte halt gerne zu Diogenes, also habe ich einen anderen Roman geschrieben, das war dann „Small World“. Als der fertig war, gab ich ihn meiner Frau zu lesen, und sie sagte: Du würdest das nicht lesen wollen. Denn ich bin ein sehr ungeduldiger Leser, und die Story kam nur langsam in Schwung. Da habe ich ihn etwas umgeschrieben, und Diogenes nahm ihn schließlich.
Jetzt sind Sie berühmt. Wenn Sie heute den ersten abgelehnten Roman an einen Verlag schickten, würde er dann womöglich aufgrund Ihres Namens gedruckt?
Beim Diogenes Verlag würde man es sicher merken und wieder ablehnen. Kann aber gut sein, dass ein anderer Verlag mir das Manuskript abnehmen würde. Ich würde es heute aber nicht mehr anbieten. Mit zunehmendem Alter wird man klüger und lernt, bestimmte Fehler zu vermeiden.
Wie haben Sie das Schreiben gelernt? Haben Sie Schreibseminare besucht, oder ist es hauptsächlich Talent?
Ich habe früh gemerkt, dass es mir leichtfällt. Deshalb hat es mir Spaß gemacht, weil ich nicht jemand bin, der im Leben immer den größten Widerstand sucht. Mir war auch schnell klar, dass ich vom Schreiben leben wollte. Am Anfang war ich in einer Werbeagentur angestellt. Damals haben wir lange Texte geschrieben, das war so Mode. Lustige, auffällige Texte. Das hat mir Spaß gemacht. Lange Texte für Hausfrauen über Emmentaler Käse usw.
Und wie ging es weiter?
Nach einiger Zeit habe ich das aufgegeben. Da wurde Geo gegründet und ich habe die ersten Geschichten für dies Magazin gemacht, Reiseberichte und Reportagen. Das habe ich hauptamtlich aber nur zwei Jahre gemacht. Reisejournalismus ist anstrengend. Jeden Tag muss man was erleben. Man kann nicht einfach aufstehen und sich sagen: Mal schauen, was der Tag so bringt. Immer muss man dem Tag irgendetwas abquetschen. Ich war auch sehr langsam, ich war es nicht gewohnt, diese langen Sachen detailliert zu recherchieren. Das war jedes Mal eine Riesenarbeit, im besten Fall konnte ich drei Geschichten im Jahr schreiben. Wochenlang recherchieren, dann schreiben, dann vielleicht auch wieder etwas durchhängen, es war einfach nicht genug Geld zum Leben. Obwohl es sehr gut bezahlt wurde, damals in den goldenen Zeiten. 1976 bekam ich Honorare von rund 8.000 Mark, das war schon gut. Aber es sind dann halt doch nur 24.000 Mark im Jahr gewesen, also 2.000 im Monat – das war mir manchmal nicht genug.
Was haben Sie sich denn von Ihrem allerersten Romanhonorar geleistet. Haben Sie sich ein neues Auto gekauft oder Ähnliches?
Nein, das war ein Vorschuss von 10.000 Franken für die täglichen Kosten, Essen, Miete. Es war nicht so, dass ich einen Riesenscheck bekommen hätte und eine Urkunde zum An-die-Wand-Nageln.
Alle Ihre Bücher drehen sich um irgendeine Art von Identitätsverlust. Haben Sie Angst, mal selbst abzudrehen?
Nein. Mich interessiert einfach die gute alte Identitätskrise des Helden. Es gibt ja nur wenige Möglichkeiten: Entweder ändert sich die Welt und der Held bleibt, wie er ist, wie zum Beispiel Michael Kohlhaas – oder eben umgekehrt, der Held ändert sich und die Welt bleibt, wie sie ist. Mir gefällt es, wenn im Laufe der Geschichte der Held ein anderer wird oder am Ende der Geschichte ein anderer ist. Und weil mich der Prozess dieser Änderung nicht so sehr interessiert wie das Resultat, führe ich immer schnelle Veränderungen herbei. Durch eine Krankheit in „Small World“, durch einen Schlag auf den Kopf in „Der perfekte Freund“, durch einen Pilz in „Die dunkle Seite des Mondes“, bei „Lila, Lila“ durch Verliebtsein und bei dem neuen Roman „Der Teufel von Mailand“ durch LSD. Alle Hauptfiguren haben auf irgendeine Weise den Kopf verloren und sind dadurch in eine Identitätskrise geraten. Denn die Identität sitzt im Kopf. Ein Leser hat mir mal gesagt, mein Thema sei doch Schein und Sein. Das hatte ich vorher selbst nie gemerkt, aber ich musste ihm recht geben. Das stimmt, auch bei Kolumnen, bei vielen Drehbüchern, bei allem, was ich schreibe.
In „Die dunkle Seite des Mondes“ verändert sich der Held dramatisch, nachdem er versehentlich einen bösen psychedelischen Pilz gegessen hat. Sie selbst aßen nie solche Pilze. Hatten Sie denn niemals Lust, so etwas mal auszuprobieren?
Lust schon. Aber ich fürchte mich vor Sachen, bei denen ich denke, da verliere ich vielleicht die Kontrolle über mich selbst. Ich habe natürlich schon Joints geraucht. Dabei habe ich auch mal in Afrika ein Gras erwischt, das wahrscheinlich eine viel verheerendere Wirkung hatte, als wenn ich einen Pilz gegessen hätte. Also ähnlich wie im Buch beschrieben. Da hatte ich mich schon verändert. Drogen verändern Wahrnehmungen. Ich habe zwar schon den Hang zu diesen bewusstseinsverändernden Dingen, aber im Grunde möchte ich doch immer gern eine Hand an der Tischkante behalten.
Sie recherchieren sehr viel im Internet mit Google für Ihre Geschichten und Romane.
Google ist mir ein lieber und treuer Begleiter geworden. Als ich noch für Geo unterwegs war, gab es Google leider noch nicht. Da musste ich immer noch selbst überall hinfahren. Heute ist das bequemer. Natürlich ist das Internet wunderbar, weil es so schnell ist und weil ich parallel zur Arbeit recherchieren kann. Früher hatte ich unüberschaubare Berge von Recherchearbeiten vor mir liegen, bevor ich zu schreiben anfing. Heute kann ich vieles während des Schreibens im Internet recherchieren. Das parallele Recherchieren ist aber auch ein Risiko, denn manchmal widerlegen die Recherchen meine Vorstellungen, und dann muss ich sie ändern.
In einem Suter-Forum im Internet schrieb ein Teilnehmer, Sie seien der wiedergeborene Goethe. Finden Sie das eher albern, oder schmeichelt es Ihnen?
Wo steht denn so etwas? Das muss ich mal googeln! Selbstverständlich schmeichelt mir das, aber es ist natürlich eine dramatische Fehleinschätzung.
Sind Sie eitel?
Klar! Jeder ist auf seine Art eitel. Ich freue mich zum Beispiel darüber, dass meine Bücher von so vielen jungen Leuten gelesen werden. Von vielen, denen ich Autogramme schreibe, könnte ich nicht nur der Vater, sondern sogar schon der Großvater sein.
Sie schreiben neben den Romanen auch viele Drehbücher und Theaterstücke. Was macht denn am meisten Spaß?
Nun, der Roman ist natürlich die Königsdisziplin. Da liefert man am Ende ein fertiges Produkt ab, und das bleibt dann so. Das ist befriedigend. Bei Drehbüchern und Theaterstücken wird immer noch etwas verändert, angepasst oder umgebaut. Beim Theater sogar noch nach der Premiere, es ist ein stetiger Prozess.
Wissen Sie schon, was für ein Buch Sie als nächstes schreiben werden?
Momentan bin ich noch mit einem Theaterstück beschäftigt, das im November in Zürich Premiere hat. Wenn das dann mal gelaufen ist, werde ich anfangen, mir über das nächste Buch Gedanken zu machen.
Welchen Schriftsteller bewundern Sie am meisten?
Im Moment wieder mal William Somerset Maugham. Was er schreibt und auch, was er denkt, über das Schreiben und über seine Arbeit. Den habe ich mit 16 Jahren für mich entdeckt. Damals las ich seine Biografie und war fasziniert. Dabei lese ich Biografien sonst gar nicht gern. Aber diese ist so uneitel und er nimmt sich so zurück.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
„Kein Gott in Sicht“ von Altaf Tyrewala. Der Erstling eines 29-jährigen Inders. Das ist ein Stafettenlauf durch Bombay mit 45 Ich-Erzählern und jeder hat mit dem nächsten zu tun, und der Kreis schließt sich nach einer rasenden Berg-und-Tal-Fahrt durch diese Schicksale und Lebenskämpfe, Verfolgungen und Langeweile. Ich habe versucht, ihn neulich auf der Frankfurter Buchmesse zu finden, aber ich habe es nicht geschafft, er ist zu beschäftigt.
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