IRGENDWO GANZ HINTEN: Linas dicke Backe
Irgendwo ganz hinten unter der rechten Wange war etwas nicht in Ordnung. Essen und Kaugummi kauen verrichtete ich vorsichtshalber auf der linken Seite. Tag für Tag nahm das „Da ist was nicht in Ordnung“-Gefühl ein klitzeklein wenig zu. Weil der Zustand jedoch weiter schmerzfrei blieb, blieb ich weiter ignorant.
Bis ich am Sonntagnachmittag mit einer Runde von Freunden zum Tanztee in Clärchens Ballhaus war. Da meinte eine angehende Ärztin: „Oha, das sieht ganz nach einem entzündeten Weisheitszahn aus.“ Ich war baff. Denn ich hatte keinerlei äußerliche Veränderung wahrgenommen. Eine andere Freundin sagte, kaum standen wir draußen vor der Tür: „Und ich dachte die ganze Zeit, du hättest einen Bonbon im Mund.“
Am nächsten Tag war die Wange angeschwollen. Meine Nachbarin meinte, sie habe mich am Vortag nicht darauf ansprechen wollen, weil ich ihr wegen meiner Augenringe schon leid genug getan hätte. Ich ging zum Zahnarzt, der tatsächlich einen entzündeten Weisheitszahn diagnostizierte. Sobald die Antibiotika anschlagen und die Schwellung weg ist, wird er gezogen. Irgendwie finde ich das undankbar. Denn der Zahn hat mir, zumindest für eine halbe Stunde, ein Heidenvergnügen bereitet.
Als ich den 9-jährigen Emilio, den Sohn der Nachbarin, zu Bett brachte, las ich ihm die Geschichte von Michel aus Lönneberga vor, in der dieser versucht, die Magd Lina von einem schmerzenden Zahn und ihrer geschwollenen Wange zu befreien. Ob Michel sie hinter seinem Pferd herzog oder sie hinauf aufs Dach schickte: Ich trug all das nicht nur mit meiner geschwollenen Wange vor. Ich war Lina. Nicht dass ich mich nach der Zange eines Dorfschmiedes sehne. Aber mein anstehender Extraktionstermin wird niemals auch nur annähernd so lustig sein wie das Vorlesen der Zahngeschichte aus Lönneberga.
BARBARA BOLLWAHN
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