Hannovers OB geht: Schmalles Zähren
Auf dem Balkone im Rathaus zu H. steht Herbert, der alte OB, über die Wange rinnt eine Zähre, im Hirn brummt es: „Scheiden tut weh.“ Tief unter ihm auf dem Tramplatz, lärmen Bürger an Buden undTränken. Jahrzehntelang lag es in seiner Hand, ihr Homunkeln weise zu lenken. Sie besser zu machen, hat nichtgeklappt, dafür reicht keine Menschenmacht. Immerhin, denkt er, prunkt dasStädchen H. in sozialdemokratischer Pracht.Ich habe die EXPO hierhergestellt, ein neues Ikea, Passagen, Ampeln engros und einFußballstadion mit saftigem grünen Rasen. Die Innenstadt dräut, einJahrhundertwerk, massiv in Beton gegossen so fest wie das Bündnis im Rathaus zwischen Grünen und den Genossen.„Muss mich loben“, rumpelt’s ihm durch den Kopf, „viel gibt‘s nicht zu korrigieren. Mit andren Worten, ich könnte auch noch weitere dreißig Jahre regieren.“„Vorbei, vorbei“, spricht der alte OB, leis in die herbstliche Nacht, während man drinnen auf seineKosten die ersten posthumen Witze macht.Der alte OB, er kennt sie alle, die Scherze betreffs seiner Reden, welche holpernd und spuckegetränkt, ermatteten alles und jeden. Den Spott ob seiner kindlichenFreude, am Abbild in den Gazetten, das er akribisch ausschnitt und klebte in Alben mit rosa Vignetten. Nicht zu vergessen, wie man ihnaufzog, im Kreise der trinkfesten Sozen, weil er statt Alkohol Minzteeschlürfte, so was ist bei den Sozen verboten.Im Hals, fühlt er, wächst jetzt eindicker Kloß, ihm wird selbst die Häme fehlen,„eigentlich bin ich nicht zu ersetzen“, das kann er schlicht nicht verhehlen.Er geht hinein, mustert dieDezernenten, Gefährten, Gäste von fern und nah die Promis, wie Münte, Wulff und Breuel, selbst Altkanzler Schröder ist da. Man hält schöne Reden, wünscht ihm viel Glück, er würde am liebsten sie lynchen, denn er ahnt, dass ihn alle, vor allem der Weil, schnellstens zum Teufel wünschen.So steht er jetzt da, der alte OB, aufrecht und trotzig im Rampenlicht, und macht auch an seinem letzten Tag ein profihaft heitres Gesicht.
MICHAEL QUASTHOFF
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