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Noch ein letzter Aufruf

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Es läuft auf eine kostensparende Entsorgung der Überflüssigen hinaus

Flughafensessel und Chromstühle, eine Lounge irgendwo im alten Europa. Transitreisende, die auf ihren „letzten Aufruf“ warten. Menschen, die Menschen ähneln, die ich schon lange kenne. Die Gesamtschulrektorin im Faltenrock, das Gesicht bärbeißig vom Leben zwischen hoffnungslosen Fällen und matten Kollegen, auf dem Weg nach Gomera. In demonstrativem Schwarz die depressiv schriftstellernde Düsseldorfer Gattin: Literaturstudium ohne Abschluss, mit Kopfschmerzen unterwegs zum siebten Guru.

Der fette Kassenarzt, der schon lange auf Kosten der Pharma-Industrie reist und trinkt. Der finstere junge Mann, der Unverständliches in sich hineinmurmelt, offensichtlich ein Borderliner, Student der Philosophie oder Versicherungsmathematik. Der Schöne im blauen Anzug, Typ Derivatekleinhändler, wirft verstohlene Blicke auf die Missoni-Blonde, die aus ihrem Sessel unbestimmte Erwartungsblitze in die Runde sendet – Assistentin einer Casting-Agentur für nichtsnutzige Commercials? Postmoderne Praktikantin?

Sie langweilen sich. Sie warten. Und solange kein letzter Aufruf kommt, plaudern sie, wie es unter müden Reisenden vorkommt: über die Last ihres Lebens, die schmerzenden Rücken, den Frust in den Büros, das Erkalten der Lieben, über die gesellschaftliche Stagnation, vor allem aber über die Arbeit. Die elende Arbeit, die fehlende Arbeit, die sinnlose Arbeit.

Die Melange aus wortreichem Jammer und plappernder Aufbruchssehnsucht, in die Tschechow das Personal der „Drei Schwestern“ getönt hat, passt ohne viele Änderungen in die Chromlounge mit absteigenden Mittelschichtlern und ihren Prekariatskindern, in die Falk Richter in seiner Schaubühnen-Inszenierung den Kleinadel von 1900 gebeamt hat. Nur die großen Arien, die der asketische Werschinin, die idealistische Irina, der Sinn suchende Tusenbach nach Tschechows Libretto singen, die klingen hohl und pathetisch, allenfalls rührend: Wir müssen arbeiten. Die Gegenwart ist unerträglich, aber wenn wir arbeiten, dann werden die Menschen in hundert, vielleicht schon zwanzig Jahren ein erfülltes, ein helles Leben führen …

Eine neue Welt bauen und dabei sich selbst zu einem neuen Menschen machen, autonom und nützlich für andere leben, wesentlich werden – wer tät’s nicht gerne. Aber die Zukunftssucht, die Hoffnungen auf einen „starken Sturm“, der den Stillstand der Seelen und der Verhältnisse aufmischt, die Fata Morgana einer goldenen Zukunft, mit der das Elend der Gegenwart seinen Sinn bekommt – wir sehen sie und wissen schon mit neunzehn, wohin sie führten.

„Keine Hoffnung für die Zukunft und eine erstarrte und gleichzeitig hektische Gesellschaft, in der jeder nur an sich denkt und in der man seinen Platz ohne Hilfe nur schwer findet“, so antwortet eine 17-jährige Gymnasiastin aus Thüringen auf die Frage nach dem Lebensgefühl ihrer Generation. Der Stillstand findet nicht mehr statisch unter Birken und an Samowaren statt, das Leben schrumpft nicht mehr in der Langeweile leerer Wiederholungen, sondern in der rasenden Beschleunigung.

Tschechows Menschen sind müde, weil sie nichts erleben, die heutigen werden matt, weil die „Erlebnisdichte pro Zeiteinheit“ sich immer weiter steigert, weil die explodierende Bewegung von Geld und Gütern, von Information und Sinn, der Wechsel von Jobs, Moden, Events großen Optionsstress erzeugt und – Richard Sennett hat es „drift“ genannt – jedes gerichtete, auf ein Ende zielendes Leben zerreibt.

„Gegenwartsschrumpfung“ – das ist einer der Befunde im großen und furchtbaren Buch des Jenenser Soziologen Hartmut Rosa mit dem schlichten Titel „Beschleunigung“ (Suhrkamp, 2005). Darin zieht er den Pfad nach, der von der präkapitalistischen Melancholie auf russischen Gütern zur Erschöpfungsdepression unserer Tage führt, die er als Verlust des In-der-Zeit-Seins lesbar macht: totalitäre Gegenwart, abgekoppelt von Geschichte und ohne eine Zukunftsverheißung. Nur Tempo, Produktivität und Konsum steigen weiter.

Depression, so steht es in einer Fußnote, wird von der WHO als zweithäufigste Krankheit der arbeitenden Welt geführt. Und unter dem zeitlosen Rasen derer, die noch atemlos mitrennen, breitet sich das zeitlose Reich der neuen Unterklasse aus, die Freiheit von Beschäftigung überhaupt, die alimentierte Wiederkehr der Muschiks. Kümmerling statt schlechtem Wodka, Glotze statt Poppen, Videospiel statt Wirtshausschlägerei – „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ heißt das neuerdings in der Feuilleton-Soziologie, oder „bedingungsloses Grundeinkommen“.

Es läuft auf eine kostensparende Entsorgung der Überflüssigen hinaus, auf eine Enklave nackter Existenz ohne Anerkennung. Und auf die beschleunigte Demontage des Sozialstaats, der – solange er Macht hatte – die Rhythmen der kapitalgetriebenen Produktion, der Lebenswelt, der Natur und der Seelen ein wenig moderierte.

Der Soziologe Rosa findet keine Kraft, die den Furor der Moderne aufhalten könnte. Die Demokratie ist zu langsam, die Gesellschaft hat ihren „Charakter als politisch zu gestaltendes Projekt verloren“; die individuellen und kleingruppigen Appelle zur „Entschleunigung“ seien gut gemeint. Doch: Wer sich auf eine Zeit-Insel flüchte, der finde nie zurück zu gesellschaftlicher Anerkennung oder politischer Gestaltungsmacht. So sind Klimakatastrophe, nukleare Unfälle, Öko-Kollaps und gelegentliche Aufstände der ausgeschlossenen Massen in seinem Zukunftsbild die letalen Bremser der Beschleunigungs-Moderne.

Die Gesellschaft hat ihren „Charakter als politisch zu gestaltendes Projekt verloren“

Aber zurück zu Tschechow. Er schenkte einer der drei Schwestern die Kraft, auszusteigen aus der bleiernen Dekadenz. Irina, die Gefühls-Narodnikin, wird „Unterricht geben, ihr Leben denen widmen, die es vielleicht brauchen“. Die Irinas und die Tusenbachs, die Wartegäste in unserer Gegenwarts-Lounge sind gut ausgebildet, polyglott und informiert genug, um zu wissen, dass „sich etwas Gewaltiges auf uns zubewegt“.

Die letzten Aufrufe füllen ganze Bibliotheken. Den Impuls, eine andere Welt nicht nur für möglich zu halten, sondern der Arbeit an der Entschleunigung der Großen Maschine einen Teil ihres Lebens zu widmen, können sie nicht aus einem historischen Trend ableiten und schon gar nicht aus der Hoffnung auf einen „großen Sturm“. Sondern nur aus ihrer Lust, zu leben. Also: Wir müssen arbeiten. Zunächst und vor allem an unseren Prioritäten. Leeres Pathos, Theaterworte?

Nun, hinter den „Drei Schwestern“ steht ihr Autor, dem die Literatur immer nur – wie Thomas Mann in rührendem Neid schrieb – die Geliebte war, die Arbeit an der Weltveränderung aber die „legitime Frau“. Tschechow, das war der Sozialreformer, der, die Tuberkulose im Leib, nach Sachalin fuhr, um für die politischen Gefangenen zu kämpfen. Tschechow war der unermüdliche Landarzt, der Verwalter des Kreiskrankenhauses, der Kurator der Dorfschule. Menschen schrumpfen, so schrieb er, wenn ihrem Leben das fehle, „was man eine allgemeine Idee oder den Gott des lebendigen Menschen nennt. Und wenn das fehlt, ist überhaupt nichts da …“ An dem Bürger Tschechow muss man das ganze ekelhafte Gerede von „Neuer Bürgerlichkeit“ und „Selbst-Verantwortung“ messen. Tschechow beschämt.

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