: Krokodil auf Russisch
Berliner Kino-Geschichten (2): Ein kleines Filmtheater im nicht hippen Teil von Prenzlauer Berg zeigt unbeeindruckt von den Multiplex-Kinos in der Nachbarschaft russische Filme und setzt damit eine lange Tradition fort, ohne in Nostalgie zu verfallen
VON MATTHIAS REICHELT
Ein Kino im Ostteil der Stadt, das russische Filme zeigt – das öffnet erst mal Tür und Tor für Klischees. Steht man dem Betreiber des Krokodil-Kinos gegenüber, fallen diese in sich zusammen: Gabriel Hageni ist ein junger, hagerer Mann in Zimmermannshose, der mit seinem Sohn vor dem Kino Holz hackt. 1972 in Freiberg, Sachsen, geboren und aufgewachsen, hat Hageni das Kino 2004 übernommen, umgebaut und wiedereröffnet.
Das Krokodil-Kino liegt nördlich des hippen Teils von Prenzlauer Berg, hinter dem S-Bahnhof Schönhauser Allee am Ende der Greifenhagener Straße. Kino hat an diesem Ort eine lange Tradition. Sie reicht zurück bis 1912, als hier das Kino Nord eröffnet wurde, das bis kurz nach dem Mauerbau existierte. Im Anschluss an die Wende stand es zunächst leer, danach übernahm es die Yorck-Gruppe. Als wenig später das Colosseum in der Schönhauser Allee eröffnete, wurde es vom Betreiber des Blow Up gepachtet. Er musste 2000 aber wieder schließen – die Miete war viel zu hoch.
Gabriel Hageni, der in Dresden und Berlin Kunstgeschichte studierte, hat früh eine Affinität zum Film entwickelt und bereits in den 90er-Jahren in Sachsen Freiluftkino organisiert – was er auch heute noch ab und an tut. Seine Jugend fiel mit dem Beginn der Perestroika zusammen und weckte das Interesse an dem Land mit den spannenden Umbrüchen. Nach dem Abitur ging er ein halbes Jahr nach Kaliningrad – „anstatt als Au-pair-Mädchen nach Frankreich“.
Heute zeigt Hageni ab und an Perlen des frühen sowjetischen Films wie zum Beispiel die Agitprop-Satire „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiki“ von Lew Kuleschow. Dabei geht es Hageni aber nicht um Verklärung und Romantik, sondern allein um Qualität. Beim Programm legt er den Schwerpunkt auf aktuelle Filme. „Nach dem Auseinanderfallen der UdSSR orientierten sich die Menschen nur nach Westen. Jetzt ist das Interesse an eigenen Geschichten erwacht, und das zeigt sich in den neuen Filmen.“
Geschichtsaufarbeitung und ideologische Orientierungslosigkeit, die Suche nach Identität in einem Land des Umbruchs sind beherrschende Themen neuer russischer Filme wie etwa „Koktebel“ von Boris Chlebnikow und Aleksei Popogrebski oder Pawel Lungins tragikomisches Werk „Roots“. Beide gelangten entweder gar nicht oder nur kurz in die deutschen Kinos. „Es ist nicht leicht, diese Filme zu bekommen, denn schon allein Versand und Zoll sind teuer“, sagt Gabriel Hageni. Um an aktuelle Filme mit deutschen oder englischen Untertiteln zu kommen, muss er deshalb findig alle Kanäle nutzen. Demnächst kann er in Zusammenarbeit mit dem Filmfestival Cottbus montags und dienstags neue Produktionen zeigen.
Auf den Namen Krokodil kam er durch die Bekanntschaft mit dem Künstler Alex Flemming, der Anfang der 90er viel mit Tierfiguren arbeitete und ihm aus seinem Fundus ein Krokodil anbot. Es hängt heute an der Decke des Vorraums, der gleichzeitig als Bar und Ausstellungsraum dient. „Krokodil klingt bissig und heißt im Russischen und im Deutschen gleich. Außerdem gab es ein berühmtes sowjetisches Satiremagazin sowie einen Trickfilm gleichen Titels“, erklärt Hageni. „Russen können viele Assoziationen dazu haben.“
Die Widerständigkeit eines Reptils ist bei der starken Konkurrenz des Multiplex in der Nachbarschaft auch gefragt. Hageni achtet deswegen darauf, dass in seinem Kino neben dem Filmprogramm auch Vorträge und Lesungen stattfinden. Auf der Bühne unter der Leinwand stehen zwei Pianos, die der Begleitung von Stummfilmen dienen sollen. „Ein Klavier wird demnächst bei einer künstlerischen Performance zerlegt werden, mehr möchte ich aber noch nicht verraten“, erzählt Hageni in seinem leicht sächsischen Dialekt.
Draußen im Vorraum hängen Briefe und Postkarten aus der UdSSR. Sie sind an den Sänger, Kommunisten und Spanienkämpfer Ernst Busch adressiert, dem Hageni im letzten Jahr eine eigene Veranstaltungsreihe widmete. Kürzlich gab es auch eine Filmreihe zum spanischen Bürgerkrieg, in der unter anderem der hervorragende Dokumentarfilm „Unversöhnliche Erinnerungen“ (1979) des im letzten Jahr verstorbenen Westberliner Regisseurs Klaus Volkenborn zu sehen war.
Hageni führt sieben Tage die Woche vor und hat ab und an ehrenamtliche Helfer. Dank einer EU-Förderung kann er sich zurzeit ein bescheidenes Honorar zahlen. „Das Wichtigste ist aber: Ich kann mir im Augenblick gar nicht vorstellen, etwas anderes zu machen.“ Erstaunlicherweise interessiert sich viel Publikum aus dem Westen Berlins für sein Programm. Die meisten sind junge Studenten oder Slawisten. Aber auch viele Russen kommen ins Krokodil – wie an den kyrillischen Klosprüchen zu sehen ist.
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