: In Bewegung ein glücklicher Mensch
PORTRÄT Wie lebt jemand, der abgeschrieben wurde? Die Arbeit des Choreografen Ricardo de Paula kreist um den gesellschaftlichen und individuellen Wert des Körpers. Das Ballhaus Naunynstraße zeigt sein Stück „Sight“
VON ASTRID KAMINSKI
Eines haben kleine Jungs in Brasilien und in Deutschland gemeinsam: Sie wollen Feuerwehrmann werden. Vielleicht liegt das an den Matchboxautos, überlegt Ricardo de Paula, während hinter ihm auf der Kreuzberger Adalbertstraße die Sirenen heulen.
Der Tänzer und Choreograf, der aus der südostbrasilianischen Großstadt Belo Horizonte kommt, wollte trotzdem nie Feuerwehrmann werden. Für ihn waren die Feste, auf denen getanzt wurde, das richtige Leben. Mit 17 begann er seine Tanzausbildung. Bald arbeitete er als Tänzer in der berühmten Grupo Corpo. Das physisch-tänzerische Niveau der Kompagnie ist so hoch, wie man es sonst nur noch aus klassischen Ensembles kennt. Das gilt auch für den extrem vielseitigen de Paula. „Ich bin im Bezug auf Bewegung ein glücklicher Mensch“, sagt er.
Seine eigentliche Herausforderung sieht er darin, Identität(en) zu erforschen: das, was sich zwischen der Wahrnehmung des Körpers und dem, der ihn benutzt, abspielt. Bevor er seine eigene Technik – eine virtuose Mischung aus Capoeira, Kontaktimpro und Body-Mind-Centering – fand und seine Kompanie Grupo Oito gründete, machte er in Europa Station bei vielen wichtigen Tanztheaterchoreografen. In London tanzte er mit DV8, in Berlin mit Sasha Waltz, Constanza Macras, Felix Ruckert und Christoph Winkler.
Dabei interessierte ihn weniger eine bestimmte Form des Tanztheaters als die Möglichkeit, dessen Vielseitigkeit auszuloten: „Ich weiß, dass man heute auch ohne äußere Bewegung tanzen kann, das ist konzeptuell möglich, aber mich fasziniert die Sprache des Körpers, die Energie und damit auch der Schmerz, der Widerstand, die Freude, die durch Bewegung freigesetzt werden. Die heutige Gesellschaft hat viele Barrieren um den Körper herum aufgebaut. Wofür steht er noch? Wir brauchen körperliche Möglichkeiten des Miteinanderfühlens, des Füreinandersorgens.“
Dabei schließen sich Bewegungsanspruch und Konzept nicht aus. In „Dance for Sale“, einer sehr charmanten Performance über den Preis von Tanz, geprobt im sonntäglichen Mauerpark, gibt es um die 20 Tänze zur Auswahl, die das Publikum kaufen kann, von den traditionellen Tänzen Frevo und Samba über einen Tanz in Kindersprache bis zu „Schwanensee“. Manche Stile werden als tänzerische Kleinode präsentiert, andere stellen wie „Poem“ Fragen an den Betrachter.
Der Choreograf tanzt „Poem“ selbst. Er trägt ein Papierröckchen mit Ausschnitt am Gesäß. Der nackte Po groovt, die Hüfte kreist, während eine scheinbare Alltagsaufnahme als Video auf den Körper projiziert wird und ein lyrisches Ich darüber reflektiert, dass es mit sechs Jahren zum ersten Mal „schwarz“ genannt wurde. Sieht so – Po raus, Hüfte abgeknickt – „Schwarzsein“ aus?
Ganz sicher gibt es da nuanciertere Perspektiven. Aber es geht immer wieder auch um den Blick, der wehtut, bei de Paula. Eines seiner Soli hat er Trayvon Martin gewidmet, der 2012 in den USA einem rassistischen Mord und darüber hinaus einer rassistischen Rechtsprechung zum Opfer fiel. Auch in Brasilien oder Deutschland, meint der Choreograf, sei es leider immer noch so, dass das „Schwarzsein“ (und nicht das „Weißsein“) eine Rolle spiele. Wenn seine Arbeit verglichen werde, dann mit der von Choreografen ähnlicher Herkunft, auch ohne ästhetische Notwendigkeit.
Wenn derzeit ein Vergleich angebracht ist, dann der zwischen seinem Stück „Sight“ und Alain Platels gerade beim Theatertreffen gezeigten „tauberbach“ (2013). Beide beschäftigen sich mit der unfasslichen Frau Estamira, die auf der größten Müllhalde der Welt, dem apokalyptischen Jardim Gramacho, arbeitete und durch einen Dokumentarfilm von Marcos Prado bekannt wurde. Beide verwenden sie Kleiderberge als Bühnenbilder sowie die poetisch-philosophischen Betrachtungen der als schizophren diagnostizierten Frau. Zum Filmemacher hatte sie gesagt: „Deine Mission ist es, über meine Mission zu reden.“
Auch de Paula kommt dieser Aufforderung nach. 2011 ist Estamira gestorben, 2012 hat er „Sight“ auf die Bühne gebracht. Er fragt darin nach der Recycelbarkeit von Identitäten und nach den Realitäten „unsichtbarer Existenzen“. Wie und wo lebt jemand, der abgeschrieben wurde?
Es ist, als wären sein und Platels Stück ein Themenkörper mit zwei sich ergänzenden Hälften: Hier, bei Ricardo de Paula die Bedrängnis, im Theaterraum von nicht fassbaren Körpern umgeben zu sein, dort, bei Platel, auf zentralperspektivischer Bühne ein Einfühlungstheater. Die Wiederaufnahme im Ballhaus Naunynstraße bietet eine gute Gelegenheit, die Nähe beider Stücke zu verfolgen.
■ „Sight“: Wiederaufnahme im Ballhaus Naunynstraße vom 15.–18. 5., jeweils 20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen