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Geld scheffeln auf der Schwundstufe

Für die darbende Industrie ist das Musical kein ästhetisches Ärgernis, sondern eine Maschine zum Gelddrucken

Wenn die Operette die Oper des kleinen Mannes ist, dann ist das Musical die Operette des Pöbels – so das gängige Missverständnis. Dabei leitete sich das Genre ursprünglich nicht von den hochkulturellen Formen des Singspiels ab, sondern emanzipierte sich von der noch anspruchsloseren Nummernrevue. 1927 war das, als mit „Showboat“ am Broadway in New York das erste echte Musical entstand. Erstmals waren die Songs keine zerstreuenden Unterbrechungen einer Handlung, sondern tragende Elemente einer zumindest in der Frühphase oft sozialkritischen Dramaturgie.

Die Zeiten allerdings, da sich selbst Größen wie Cole Porter („Leave It To Me“, 1938) oder Kurt Weill („Lady In The Dark“, 1941) ernsthaft dem Musical zuwandten, sind lange vorbei. Inzwischen hat die Vergnügungsmetropole Las Vegas den Broadway oder das Londoner East End als Hauptstadt des Genres abgelöst – und die Verhältnisse umgekehrt. Genies wie Gershwin sind nicht nachgewachsen, selbst ein Vielschreiber wie Andrew Lloyd-Webber („Cats“) muss sein langjähriges Monopol auf Millionengewinne teilen – mit einer Musikindustrie, die unter katastrophalen Umsatzeinbrüchen leidet und sich wie ein Ertrinkender an das Musical klammert.

Mit Tonträgern lässt sich seit der digitalen Wende kein Geld mehr verdienen, Tourneen großer Künstler sind ebenso überteuert wie die Tickets dafür – nur beim Besuch eines Musicals sitzt das Geld des Publikums offenbar lockerer als jemals zuvor. Und die Industrie hockt auf einem Schatz, der nur in der Welt des Musicals noch wirklich unbezahlbar ist: den Melodien und den Markennamen, die dahinterstecken. Byörn Ulvaeus und Benny Anderson von Abba haben in nur fünf Jahren mit ihren für „Mamma Mia“ aufgewärmten Hits mehr Geld verdient als jemals zuvor, Hit-Singles und Tantiemen eingeschlossen.

Die Branche boomt dermaßen, dass vor knapp zehn Jahren auch in Deutschland die Neubauten aus dem Boden schossen, von Stuttgart bis Berlin. Zielpublikum sind hier vor allem Leute, die sich nicht für Musik interessieren – sondern das Musical als schön weichgespülten kulturellen Höhepunkt ihrer Städtereise wahrnehmen. „Cats“ als Grund, Stuttgart zu besuchen.

In Las Vegas, auf diesem Friedhof der Kuschelmelodien, mag das Genre vollends auf den Hund gekommen sein. Als Geschäftsmodell aber steht es hier in seiner höchsten Blüte.

Immer mehr Pop- und Rockkünstler erliegen der finanziellen Versuchung, ihren Back-Katalog einer finalen, lukrativen Zweitverwertung zu überlassen. Was mal ein legendärer Song von Falco oder Queen oder Dylan oder sogar den Ramones gewesen sein mag, dient hier nur noch bukolischen Tanzshows als akustischer Treibstoff. Je höher der Wiedererkennungswert der entstellten Originale, desto besser. Umso schlimmer. FRA

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