: Die Mutprobe
LERNEN Deutsche Eltern schicken ihre Kinder am liebsten aufs Gymnasium. Natürlich, denn das verspricht einen guten Job und Sicherheit vor dem Abstieg. Doch viele wollen ihrem Nachwuchs die Eliteschulen nicht mehr zumuten
Angela Merkel hat ihr Abitur mit 1,0 bestanden und wurde Bundeskanzlerin, Dieter Bohlen schaffte eine 1,3 und macht heute singende Jugendliche fertig. Aber aus Kindern kann auch etwas werden, wenn sie kein Abitur haben. Ein paar Beispiele:
■ Nena, Sängerin, ging vorzeitig vom Gymnasium in Hagen ab, lernte Goldschmiedin.
■ Thomas Mann, Schriftsteller, Mittlere Reife in Lübeck, wurde Versicherungsangestellter.
■ Joschka Fischer, Politiker, ging vorzeitig vom Gymnasium in Stuttgart ab, danach machte er eine Lehre als Fotograf, die er ebenfalls abbrach.
■ Iris Berben, Schauspielerin, verließ die Schule ohne Abitur.
■ Wilhelm Conrad Röntgen, erster Physiknobelpreisträger, wurde aus disziplinarischen Gründen von seiner Schule in Utrecht verwiesen.
AUS ALTUSRIED, BERLIN UND HAMBURG ANNA LEHMANN UND KAIJA KUTTER
Laura Viniol sitzt auf der Rückbank und sagt, dass sie nicht will. Ihr Vater steuert den schwarzen Toyota über die Landstraße nach Hause. Sie kommen vom Tag der offenen Tür am Gymnasium. Laura ist da gerade zehn, geht in die 4. Klasse und muss die bisher schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen. Auf welche Schule soll sie wechseln? Das Gymnasium ist nah. Es bietet neben Latein auch Kletterkurse an. Ältere Schüler helfen den jüngeren bei den Hausaufgaben. Die Schule wäre eigentlich die erste Wahl.
„Ich will da nicht hin“, sagt sie. Ihr Vater schaut überrascht in den Rückspiegel.
Das deutsche Schulsystem hat sehr früh einen Filter eingebaut. In 14 Bundesländern wechseln die Kinder nach vier Jahren Grundschule auf weiterführende Schulen. Die eher praktisch orientierten werden in Richtung Real- und Mittelschulen gelotst, die, von denen man sich mehr verspricht, in Richtung Gymnasium. Schon im Alter von zehn Jahren fällt so eine Vorentscheidung, ob Sohn oder Tochter später Facharbeiter, Angestellte oder Manager werden.
Laura Viniol wohnt mit ihren Eltern auf einem Gehöft bei Altusried im Allgäu. Die Eltern haben das Bauernhaus vor einigen Jahren gekauft und ausgebaut. Es liegt abgelegen, der Strom kommt vom Dach aus Sonnenkollektoren, das Wasser aus der hauseigenen Quelle.
Dass Laura damals vor zweieinhalb Jahren aufs Gymnasium wechseln sollte, bezweifelte niemand. Nicht ihre Eltern, nicht ihre Urgroßmutter und schon gar nicht die Lehrer. Notendurchschnitt 1,6 – eine klare Gymnasialempfehlung. Doch Laura Viniol entschied sich anders.
„Ich hatte es mir herzlicher vorgestellt“, erinnert sich Laura an ihren einzigen Tag in einem Gymnasium. Die Familie Viniol, Ralf und Katharina und ihre beiden Töchter, sitzen um den langen Holztisch in der Küche. Der 15-jährige Amon kommt erst gegen drei mit dem Bus der Förderschule nach Hause. Vor dem Fenster trotten drei Ponys über die Weide. Auf dem Tisch stehen Käsespätzle mit Zwiebelringen. Niemand isst, bevor sich nicht alle genommen haben.
Laura Viniol, mittlerweile 13 Jahre alt, klare braune Augen, nestelt an ihrem türkisen Schaltuch. „Also die Lehrer am Gymnasium hatten alle so einen Ausdruck im Gesicht, und da hatte ich nicht das Gefühl, dass das Lernen da Spaß macht. Es war so – Papa, du hattest so ein Wort dafür.“ – „Unpersönlich“, sagt Ralf Viniol.
Eigentlich ist das Gymnasium die mit Abstand beliebteste Schulform in Deutschland. Egal, ob wie in Bayern die Kinder mindestens eine 2,3 in den Hauptfächern erreichen müssen, oder ob wie in Hamburg die Eltern entscheiden – bundesweit besuchen gut 40 Prozent der Kinder nach der Grundschule ein Gymnasium.
Doch Laura Viniol ist mit ihren Zweifeln an der Eliteschule nicht allein. Die wachsen – überall in Deutschland. Angefangen hat das vor etwa zehn Jahren. Damals beschlossen Politiker, die Gymnasialzeit in den westdeutschen Bundesländern um ein Jahr zu verkürzen. Den Schülern bleiben seitdem statt neun nur noch acht Jahre bis zum Abitur. Das Gymnasium sollte noch besser werden und besser hieß: schneller.
Seither hätten Stress, Schlafstörungen und psychische Probleme zugenommen, klagen Eltern und Kinderärzte.
Es gibt Initiativen, die fordern, die Gymnasialzeit wieder zu verlängern, damit die Kinder nachmittags Flöte und Fußball spielen können. Erst vor ein paar Tagen stritt der bayrische Bildungsminister mit Unzufriedenen in München.
Der Philosoph Richard David Precht möchte das Gymnasium abschaffen, weil die Auswendiglernerei dort nichts mit Bildung zu tun habe. Und Eltern wollen ihre Kinder nicht mehr auf Gymnasien schicken – auch wenn die die Noten dazu hätten.
Gemeinsam ist den Gymnasialrebellen, dass ihnen das „G8“ als Auswuchs einer überoptimierten Gesellschaft gilt, die Leistung über alles stellt und dieses Denken Kindern aufzwingt. Ihren Unmut bündelt ein Kampfbegriff: Turbo-Abi.
Wenn sie ihr Kind bei ihm anmeldeten, werde es im Hauptberuf Schüler sein. So stellte ein Direktor sein Gymnasium auf einem Elternabend der Grundschule Altusried vor. Da sei sie innerlich zusammengezuckt, erzählt Katharina Viniol.
Nach diesem Elternabend saßen sich Katharina und Ralf Viniol am Esstisch in der Küche gegenüber. Sie waren sich schnell einig, Lauras Entscheidung gegen das Gymnasium zu akzeptieren.
„Das Abitur hat bei uns nicht so einen hohen Stellenwert“, sagt Katharina Viniol. Das liegt auch an den eigenen Erfahrungen.
Katharinas Mutter schickte sie auf eine Waldorfschule in Stuttgart, die sie vor dem Ende der 13. Klasse verließ. Ihr Mann besuchte bis zur 8. Klasse ein Gymnasium im Allgäu, um dann erleichtert auf die Realschule zu wechseln. Rückblickend sagt er: „Es ist nicht schön, wenn die Wünsche der Eltern auf das Kind projiziert werden.“
Als seine Tochter sich für die Mittelschule entschied, war Viniol deshalb ein wenig erleichtert. „Der Stress, die Einpaukerei, die uns gestört hat, fällt weg.“ Er sitzt am Küchentisch, hat die Beine übereinandergeschlagen, die Ärmel seines karierten Hemds über die kräftigen Arme gekrempelt.
Gemeinsam verteidigen die Eltern die Wahl ihrer Tochter. Gegen die eigene Familie. „Bei mir hat das keiner verstanden“, sagt Katharina Viniol, deren Großvater einst, so erinnert sie sich, „Direktor bei Daimler“ war. Gegen die Kritik der Klassenlehrerin, die den Eltern vorwarf, Laura zu unterfordern.
Mein Kind muss aufs Gymnasium. Es soll ja etwas werden. Das gilt unter Akademikereltern als Selbstverständlichkeit. Alles andere erscheint ihnen gerade so, als würden sie den Abstieg des eigenen Nachwuchses beschließen.
Nicht ohne Grund. Die Gesellschaft teilt sich zunehmend in Arm und Reich, das Risiko, im Elend zu landen, wird für die jüngeren Generationen wieder größer. Dass ihre Kinder zu den Verlierern gehören könnten, ängstigt vor allem jene Eltern, denen es zwar gut geht, aber nicht so gut, dass sich ihre Familien keine Sorgen um die Zukunft machen müssen.
Die Bildungsinstitution Gymnasium klingt nach Schiller und Goethe, sie verspricht ein Studium an einer Universität, und das wiederum verheißt die besseren Jobs. 2013 fingen in Deutschland erstmals mehr Menschen ein Studium an als eine Ausbildung.
Dabei braucht es kein Gymnasium, um studieren zu gehen. In allen Bundesländern können Schüler erst die Mittlere Reife ablegen und dann das Abitur. Bequem in Klasse 13. In Bayern kommen über 40 Prozent der Abiturienten inzwischen von beruflichen Schulen. Und in Berlin oder Schleswig-Holstein werden Gesamtschulen häufiger besucht als das Gymnasium. Für viele Eltern, die eine Rückkehr zum Gymnasium mit neun Jahren fordern, sind solche Schulen jedoch keine Alternative. Deren Ideal, alle Kinder zusammen lernen zu lassen, klingt weder nach höherer Bildung noch nach einem Vorteil im Kampf um Studium und Job.
Der Philologenverband, die Lobby der Gymnasiallehrer, spricht nicht von Gesamtschulen, sondern von Einheitsschulen. Einheit wie Gleichmacherei.
Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Verbands, ist an diesem Morgen mit der Sieben-Uhr-fünfzehn-Maschine aus München nach Berlin geflogen. Mit zerzausten grauen Haaren eilt er ins Hauptstadtbüro des Verbands, der sich gleich neben der Konferenz der Kultusminister in Berlin-Mitte eingemietet hat.
Er lässt sich einen Latte macchiato bringen. Daran wird er nicht einmal nippen. Stattdessen redet er über das G8. „Wir schaffen im Unterricht jetzt nur noch eine Revolution, wo es früher drei waren“, sagt der Geschichtslehrer, der ein Gymnasium in Bayern leitet. Bei den Schülern rutsche das Wissen zusammen, manche verorteten die DDR im 18. Jahrhundert.
Meidinger attackiert das G8. Aber im Gegensatz zu denen, die im Schnellabitur ein Symbol für das Dünkelhafte und Zwangsbeladene des Gymnasiums an sich sehen, will der Chef des Philologenverbands das Gymnasium als Bildungsinstitution verteidigen. Meidinger sorgt sich, weil G8 dem Ruf der Eliteschulen schadet. Es brauche wieder neun Jahre Zeit, um im Unterricht auch über prinzipielle Fragen nachzudenken, sagt er.
Laura Viniol geht heute auf die Mittelschule in Altusried. 16 Schüler hat ihre Klasse – halb so viele, wie es auf dem Gymnasium wären. Sie können hier den Hauptschulabschluss machen oder die Mittlere Reife.
Laura Viniols Freundinnen gehen alle aufs Gymnasium. Natürlich wollten die sie überreden, mitzukommen, sie sagten: „Auf der Mittelschule musst du jeden Tag die Rabauken sehen.“
Dass ihre Tochter weniger Chancen im Leben haben könnte als ihre Freundinnen, will Katharina Viniol nicht glauben. Laura gehe jetzt glücklich durch ihre Schulzeit, ihr falle alles zu, sagt die Mutter. Sie ist Klassensprecherin. Das Abitur könne sie später auch auf der Fachoberschule machen.
Wenn ihre Freundinnen jeden Morgen um kurz vor halb sieben an der Haltestelle auf den Bus zum Gymnasium warten, steht Laura Viniol gerade auf. Wenn sie am frühen Nachmittag aus der Schule kommt, geht sie in den Garten und kümmert sich um die Pferde. Oder sie liest. Laura Viniol sagt, sie bereue gar nichts.
Ihre Freundinnen trifft Laura jede Woche beim evangelischen Mädchentreff und beim Reiten. „Die machen eigentlich genau das Gleiche wie wir, nur gründlicher“, sagt Laura Viniol.
Vermisst sie etwas? „Ich würde gern noch eine Sprache lernen“, sagt sie: „Spanisch oder Französisch.“ Eine zweite Fremdsprache ist im Lehrplan der Mittelschule jedoch nicht vorgesehen. Das ist der Preis für mehr Entspanntheit.
Sie seien wohl eher eine Randgruppe, sagen die Viniols. „Aber wir sind nicht die Einzigen, die so denken.“
Die Soziologin Katja Wippermann befragte mit ihrem Mann 2012 über 250 Eltern, Lehrer und Schüler zu Schule und Lernen. Wippermann fand heraus, dass sich die Vorstellung von Erziehung grundlegend wandelt. Pflichtwerte verlieren an Bedeutung, die Persönlichkeit des Kindes soll im Mittelpunkt stehen. In ihrer Untersuchung kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, Eltern wollten kein Bildungssystem mehr, das ihre Kinder nur auf Noten reduziere.
„Auch von den Lehrern bekamen wir gespiegelt, dass Eltern zunehmend sagen, sie wollen diesen Druck auf dem Gymnasium für ihre Kinder nicht“, sagt Wippermann. Es seien durchaus Eltern mit hohen Bildungsambitionen, die sich bewusst vom Gymnasium abwendeten.
Im Schatten der bürgerlichen Institution Gymnasium haben sich in den vergangenen Jahren Schulen des gemeinsamen Lernens etabliert. Je nach Bundesland heißen sie Sekundar- oder Gesamt- oder Gemeinschaftsschule. Schüler mit Gymnasialempfehlung sollen dort neben der Schülerin mit Hauptschulempfehlung sitzen. Die Gesamtschulen haben auch davon profitiert, dass sie in der Regel das Abitur nach Klasse 13 anbieten.
Heinke Steinhäuser war früh klar, dass sie ihre Tochter Lenya nur ungern auf ein Hamburger Gymnasium schicken würde. Es war für sie auch eine politische Entscheidung.
Steinhäuser wohnt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einem Stadtreihenhaus mit kleinem Garten. Ganz nahe liegt Eimsbüttel, eines der beliebtesten Viertel der Stadt, mit Cafés, vielen Grünen-Wählern und Jugendstil-Altbauten. Eimsbüttel ist umzingelt von Gymnasien. Doch mit ihnen verbindet Steinhäuser Frontalunterricht und Auswendiglernen.
Neben den 60 Gymnasien gibt es in Hamburg 59 Stadtteilschulen, die wie Gesamtschulen funktionieren. Auch dort kann man das Abitur machen, man hat ein Jahr länger Zeit.
Die Schule, die Eltern für ihre Kinder auswählen, ist auch ein Statement. Wie sieht man sein Kind? Wie betrachtet man diese Gesellschaft?
Heinke Steinhäuser hat ihre Tochter in der Grundschule in der Rellinger Straße angemeldet. Sie ist eine von vier Grundschulen in Hamburg, in der Kinder bis zur 6. Klasse gemeinsam lernen. Diese Versuchsschulen sind noch übrig von der „Primarschulreform“ der schwarz-grünen Koalition, die zwei Jahre längeres gemeinsames Lernen vorsah und von einer Bürgerinitiative 2010 gestoppt wurde. Schwarz-Grün in Hamburg zerbrach daran.
Statt Noten gibt es an der Rellinger Straße „Kompetenzraster“. Das sind Tabellen, in denen steht, was die Schüler gelernt haben: „Ich kann das kleine Einmaleins auswendig“ oder „Ich kann praktisch jede Art von geschriebenen Texten lesen“. Die Klassen eins bis drei und vier bis sechs lernen jeweils zusammen. Und statt Fächern gibt es neben Deutsch, Mathe und Englisch Projekte, über die Steinzeit etwa oder über Religionen. „Jedes Kind lernt nach seiner eigenen Geschwindigkeit“, sagt die Mutter.
Heinke Steinhäuser wollte, dass Lenya weiter an eine solche Schule geht. Mit anderen Eltern verabredete sie, dass möglichst viele Kinder von der Rellinger Straße auf die nächstgelegene Stadtteilschule gehen sollten. Dort arbeiten die Lehrer genauso mit Projekten. Außerdem könnte diese Schule mehr Kinder mit Gymnasialempfehlung gut gebrauchen.
Auch bei Lenya liegen die Zweifel am Gymnasium in der Familie. Ihr Vater besuchte die Hauptschule. Als Erzieher kam er schließlich zur Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, die Menschen ohne Abitur studieren ließ. Heute berät er als Diplomsoziologe Unternehmen, wie sie ihre Mitarbeiter fördern können. Heinke Steinhäuser hat nach der Realschule Fachabitur gemacht. Sie ist wie ihr Mann studierte Sozialökonomin. Beide finden, Stadtteilschulen brauchen eine Mischung aus möglichst unterschiedlichen Schülern.
In Hamburg sind sie damit die Ausnahme. Das Schulmodell mit seinen zwei Säulen funktioniert nur dann gut, wenn sich genügend Eltern für Stadtteilschulen entscheiden. Bei der jüngsten Anmelderunde wählten aber 54 Prozent das Gymnasium. Und nur 9 Prozent der Kinder an den Stadtteilschulen haben eine Gymnasialempfehlung. Für eine günstige Mischung müsste dieser Anteil mindestens bei 30 Prozent liegen.
Fast ein Jahr lang diskutierten Lenya und ihre Eltern über die schwierige Wahl der Schule. „Die Lehrer trauen uns viel zu“, sagt sie über ihre Grundschule. Weshalb sich auch Lenya, zwölf Jahre alt, zutraute, zu entscheiden, welche Schule die beste für sie ist. Sie wählte auch eine Stadtteilschule. Aber nicht die, die ihre Eltern gerne wollten.
„Ich hatte das Gefühl, das die Schule vom Konzept her besser zu mir passt“, sagt Lenya. Es werde dort mehr mit den Kindern gearbeitet. Sie sieht mit Stupsnase und Pferdeschwanz noch kindlich aus, spricht aber sehr erwachsen.
Zwanzig Minuten wird sie jeden Tag mit dem Rad fahren müssen, um zu einer der renommiertesten Reformschulen der Stadt zu kommen.
Lenya wird an eine Schule gehen, an der 27 Prozent der neuen Schüler eine Gymnasialempfehlung haben. An der Schule, die ihre Eltern wollten, sind es nur 15 Prozent.
Manche ihrer Freundinnen besuchen das Gymnasium. „Immer, wenn ich anrufe, machen die gerade Mathe oder so.“
Es gibt auch ein Gymnasium, das Lenya gefällt. Die Lehrer guckten dort, „was gut ist für jedes Kind“, sagt sie. Man dürfe, ergänzt Heinke Steinhäuser, auch nicht alle Gymnasien verteufeln. „Einige haben sich auf den Weg gemacht.“ Der Druck aufs Gymnasium zwingt die Institution, sich anzupassen.
Millionen Schülerinnen und Schüler gibt es in Deutschland insgesamt – an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen
Quelle: Statistisches Bundesamt 2014
23
Prozent betrug der Zuwachs der Schülerzahl an integrierten Gesamtschulen zwischen 2003 und 2012
Quelle: Kultusministerkonferenz
9
Prozent betrug der Schwund der Schülerzahl an Gymnasien im selben Zeitraum
Quelle: Kultusministerkonferenz
89
Prozent der Deutschen sind dafür, das Gymnasium zu erhalten
Quelle: Forsa-Umfrage 2009
18
Prozent der Eltern meinen, Kinder sollten erst ab Klasse 6 in verschiedene Schulformen aufgeteilt werden
Quelle: Emnid-Bildungstudie 2012
60
Prozent aller Gymnasiasten im Alter von 11 bis 17 Jahren rauchen. An Hauptschulen sind es 35 Prozent
Quelle: IW Köln 2009
Dieser Druck kommt in Hamburg auch von einer Initiative, mit dem Titel „G9-Jetzt-HH“. Die Initiative will erreichen, dass alle Gymnasien wieder das neunjährige Abitur anbieten.
Inzwischen hat sich allerdings auch eine Gegen-Elterninitiative für den Erhalt des Turbo-Abiturs gegründet. Ihr Motto: „Schulfrieden wahren. Keine neuen Reformen!“
Die Eltern in beiden Initiativen wollen, dass der Stress für ihre Kinder nicht noch weiter wächst. Nur geht es den einen um mehr Zeit zum Lernen, den anderen um Ruhe vor immer neuen Veränderungen.
Als in den Osterferien in Berlin fast alle auf den Brief warten, der ihnen sagt, ob es mit ihrer Sekundarschule oder ihrem Gymnasium geklappt hat, hüpfen Marie Fischer und ihre Schwester auf dem Trampolin. Das Trampolin steht auf einem Stück Rasen in einer Siedlung am Stadtrand von Berlin, bunte Häuschen mit roten Dächern. Aus dem Haus neben dem Trampolin tönt Klaviermusik.
Marie Fischer kommt Ende August in die 7. Klasse, und sie weiß: Das Einzige, was sich für sie ändert, ist ihre Klassenleiterin.
Auch sie hat einen Weg eingeschlagen, der am Gymnasium vorbeiführt. Marie Fischer besucht die Anna-Seghers-Schule, eine Gemeinschaftsschule im Berliner Stadtteil Köpenick. „Gemeinsam statt einsam“ steht in bunten Buchstaben im Fenster über dem Eingangsportal. Die Kinder können von Klasse 1 bis 13 zusammen lernen.
„Ich merke, wie entspannt alles ist. Man hat nicht den Kampf um den Schulplatz“, sagt Katja Fischer, eine große Frau mit straff zurückgebundenen schwarzen Haaren. Sie hat den Klavierhocker verlassen und sich mit Marie aufs Sofa gesetzt. Ihrer Tochter fallen die dunklen Locken ins Gesicht. Auf dem Couchtisch stehen zwei Gläser mit Leitungswasser. Bei den Fischers gibt es weder Kaffee noch schwarzen Tee und Alkohol sowieso nicht. Sie sind Mormonen, sie besuchen jeden Sonntag die Kirche. Katja Fischer, 42 Jahre alt, wollte als Kind unbedingt Abitur machen. Doch die Mitschüler und Lehrer ihrer Grundschule in Westberlin lächelten darüber, unterschätzten sie. Katja Fischer schwieg. Und bestand 1992 ihr Abitur an einer Berlin Gesamtschule.
Einmal die Woche kommt ein Musiklehrer ins Haus der Fischers, Marie spielt Geige und Klavier. „Auf Wunsch meiner Mama“, sagt Marie. „Weil du Talent hast“, sagt ihre Mutter. „Aber ich muss jeden Tag ’ne halbe Stunde üben“, sagt Marie. „Wichtig ist, dass es Spaß macht“, sagt ihre Mutter. „Mhm“, sagt Marie.
„Jede Mutter möchte, dass ihre Kinder gute Noten haben“, glaubt Katja Fischer.
Das Gymnasium meiden, heißt nicht, gegen Leistung zu sein.
Aber gegen das, was der Publizist Reinhard Kahl Bulimie-Lernen genannt hat: Lernstoff reinfressen, auskotzen, vergessen. Und gegen das Konkurrenzdenken.
Schüler die von Gymnasien in die höheren Klassen der Anna-Seghers wechselten, hätten oft Defizite, sagt die Leiterin der Schule. „Sie haben nicht gelernt, im Team zu arbeiten, die sehen sich eher als Einzelkämpfer.“
In ihrem Klassenraum sitzt Marie an einem Vierertisch ganz hinten. Die Schüler an einem Tisch sind ein Team. „Wenn ich in Mathe was nicht verstehe, kann mir Josi helfen. Die ist in Deutsch nicht so gut, da helfe ich ihr“, sagt Marie.
Ihre Cousine will in der 7. Klasse auch auf die Anna-Seghers-Schule wechseln. „Die muss jetzt schauen“, sagt Katja Fischer und zieht die Augenbrauen hoch.
Maries Schule ist begehrt. 50 Schüler werden in diesem Jahr aufgenommen, 168 Anmeldungen liegen vor.
Tierärztin will Marie später werden. „Dazu musst du aber studieren“, sagt Katja Fischer und schaut ihre Tochter von der Seite an.
Auch Lenya will etwas mit Tieren machen.
Laura sagt, sie möchte später auf die Fachoberschule wechseln, um Abitur zu machen. Die Eltern haben versprochen, ihr für den langen Weg ein Twizy zu kaufen, eine Kreuzung zwischen Moped und Auto – mit Elektroantrieb. Sie möchte Pferdewirtin werden wie ihre Mutter.
„Muss ich dafür studieren, Mama?“ – „Nein, das musst du nicht.“
■ Kaija Kutter, 50, ist Bildungsredakteurin der taz-Hamburg. Sie hat zwei fast erwachsene Kinder, die auf ein Gymnasium mit G8-Abitur gehen
■ Anna Lehmann, 38, ist taz-Bildungsredakteurin. Ihre älteste Tochter erfährt an diesem Wochenende, auf welche weiterführende Schule sie gehen kann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen