AN DEN RÄNDERN EUROPAS:
■ Cigdem Aslan: Mortissa (Asphalt Tango)
Schmerz der Ägäis
Der Ausdruck „Mortissa“ bezeichnet eine Frau, der das ausschweifende Vergnügen nicht fremd ist, allen Schicksalsschlägen zum Trotz. Mit ihrem Album erinnert die in London lebende Sängerin Cigdem Aslan an die großen Sängerinnen des Rembetiko, jener Sehnsuchtsmusik der in den 1920er Jahren aus Kleinasien vertriebenen Griechen. Etwa die jüdische Sängerin Rosa Eskenazi, die in ihrer Jugend mit armenischen Musikern aus Istanbul durch die Cafés von Athen und Saloniki zog und die 1980 mit 90 Jahren starb. Auch wenn es sich vorwiegend um tragische Liebeslieder handelt, haftet ihnen bei aller Wehmut oftmals eine freudige Note an. Cigdem Aslan singt dieses Repertoire mit cooler Intensität. DB
■ Mostar Sevdah Reunion: Tales of A Forgotten City (Snail Records)
Bosnisches Mosaik
Der Musikproduzent Dragi Sestic floh vor zwanzig Jahren vor dem Bürgerkrieg aus Bosnien. In den Niederlanden gründete er die Band Mostar Sevdah Reunion, um die Sevdalinka zu bewahren und wiederzubeleben, die traditionelle, gesungene Liebeslyrik aus Bosnien. Entstanden ist sie vor 400 Jahren, zu Zeiten des Osmanischen Reichs, aus türkischen, persischen und slawischen Einflüssen und solchen der regionalen Roma-Musik. Für „Tales of the Forgotten City“ ist Sestic in seine Geburtsstadt Mostar zurückgekehrt, um dem verlorenen Geist des Ortes nachzuspüren. Atmosphärische Aufnahmen und Straßengeräusche mischen sich mit filigranen Kompositionen, die balkanische Schwermut verströmen. DB
■ Volga: Kumushki Put (Asphalt Tango)
Pagane Psychedelik
Wer gerade nach einem ordentlichen Soundtrack für einen Mittelalterthriller sucht, wird bei „Kumushki Pjut“ von Volga fündig. Wobei das überhaupt keine weltflüchtige Musik ist. Denn bei Volga, einem Trio aus Moskau, ist das Mittelalter voll elektrifiziert und kann auch in einer fernen Zukunft spielen, die noch von dem ekstatischen Treiben der Rundtänze weiß. Man hört archaisches Trommeln mit Soundexperimenten, bollernde Elektronik misst sich an Gitarrenattacken, kühl designte Clubmusik reibt sich an russischer Folklore. Headbanger-Stoff, schollenschwerer TripHop, Chilloutmusik, zusammengehalten von den beschwörenden und eindringlichen Gesängen von Angela Manukian. Pagane Psychedelik als alternative Russendisko. Macht einen Heidenspaß. TM
■ 9Bach: Tincian (Real World)
Industrial-Kammerpop
Wales ist ein weißer Fleck auf der Weltmusikkarte. Doch wer von 9Bach verzärtelten Folk erwartet, ist auf dem Holzweg. Die Kompositionen der Band um Lisa Jen und Martin Hoyland sind knackig im Bass- und Rhythmusfundament, darüber entfalten sich sangliche Piano- und Fender-Rhodes-Riffs, metallene Harfenschnipsel, geheimnisvoll bluesige Akustik- und sperrige Stromgitarren, ein pathetisch summender Männerchor. Ein prächtiges Aushängeschild für die von Frikativen wimmelnde walisische Sprache – man kann sich in dieses Idiom verlieben, zumal wenn es aus der Kehle eines so kristallklaren Soprans kommt. 9Bach wollten der ruppigen Bergbaulandschaft von Nordwales ein Denkmal setzen, ihre Musik leuchtet wie ein Rohdiamant inmitten von Kohlestaub. SF
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