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Chirurg mit der Stoßstange

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Klack. Die Kugeln krachen zusammen. Wusch, spritzen sie auseinander. Und klong, gleich zwei fallen ins Loch. Beim nächsten sehr zarten Stoß säuseln zwei Kugeln nur gemächlich dahin, bis eine mit letzter Kraft in die linke Ecktasche plumpst. Dann wieder dieses quiekige Gurgeln, wenn die Lederspitze des Queue kurz mit Fettkreide eingeschmiert wird. Und klack, wusch, klong. Versenkt.

Training in Al‘s Billard Corner, mit 16 Tischen auf 600 Quadratmetern eine der größten Kugelhallen in Aachen. Bassig und rockig beschallt, hantieren hier vornehmlich junge Männer mit Queues und polierten Kugeln. Hinten in der Ecke, an Tisch 14, stößt Florian Scholl gerade zu. Ein richtiger Könner: Drin ist die erste Kugel, die zweite, die dritte. Wie von Zauberhand zum richtigen Rückwärtsdrall gelenkt, rollt der Spielball („die Weiße“) wieder an eine ideale Stelle. Und klock: versenkt. Dann ein Flüchtigkeitsfehler. Kurzes Kopfschütteln. Die kleine Serie endet.

„Poolbillard“, sagt Scholl, „ist unglaublich vielseitig, ein sehr anspruchsvolles Spiel, technisch und auch psychologisch.“ Der 34-Jährige mit dem fast billardkugelglänzenden Kopf locht seit 22 Jahren. Und sagt mit Nachdruck: „Es geht mir nicht um mich, sondern allgemein um den Poolbillardsport.“ Und er betont Sport. Denn das Image von Billard ist ein anderes: verrauchte Saloons, dunkle Ecken, halbseidenes Zockermilieu. Poolbillard, so Scholl, sei vielmehr „der Kampf mit physikalischen Gegebenheiten und mit dir selber. Du musst Stresssituationen meistern. Strategisches Denken anwenden. Poolbillard auf unserem Niveau ist knallharte Arbeit.“ Und nochmal: „Ein Hochleistungssport“.

Mit leichtem Öcher Singsang zählt der gebürtige Aachener auf: „Zeitaufwand mindestens 25 Stunden die Woche am Tisch, zum Ausgleich Joggen und Badminton, Mentaltraining, gelegentlich ein bisschen Betreuung durch einen befreundeten Sportpsychologen.“ Die Umwelt ist dafür wenig sensibilisiert. „Es stört mich immens, wie wenig ernst das viele nehmen, wenn ich sage: Ich bin Poolbillardspieler von Beruf.“ Als Reaktion gebe es oft „dieses Lächeln“. Das nervt.

Florian Scholl war 12, als ihn sein Vater zum BC Schwarz-Weiß Eilendorf in Aachen mitschleppte: „Der Bazillus hat mich gleich gepackt: Das Spiel war toll, und als 12-Jähriger unter lauter Erwachsenen zu sein war etwas ganz Besonderes.“ Bald kamen erste Erfolge: Jugendmeisterschaften, Turniergewinne. „Vor allem hatte ich das Glück, tolle Vorbilder um mich herum zu haben, einen Jugend-Europameister aus Alsdorf und den späteren Weltmeister, Ralf Souquet.“ Der Großraum Aachen ist ein Mekka der Kugelversenker.

Mit 16 bestritt Scholl seine erste Bundesligapartie bei den Senioren. „Und ich hab meine Spiele gewonnen, sensationell. Das hat wie ‘ne Bombe eingeschlagen.“ 1996 wurde er mit Erkelenz Deutscher Meister.

Die Karriere riss brutal. Nach elf Jahren Bundesliga wurde Scholl im Jahr 2000 von einer langen schweren Krankheit erwischt. „Vier Jahre lang war ich ganz weg vom Fenster.“ An Billard war nicht mehr zu denken. „Dann habe ich mich irgendwann entschieden, weiterleben zu wollen.“ Aber wie, wovon? Billard hat keinen Arbeitsmarkt. Informationstechnologie war schon immer Scholls Hobby. Er ließ sich zum Fachinformatiker umschulen. Jobs: Fehlanzeige. Dann Arbeitsamt-Maßnahmen, auch an der Volkshochschule, um wieder „Chancen zu bekommen für den 1. Arbeitsmarkt.“

Erst Anfang diesen Jahres nahm Florian Scholl ernsthaft wieder das Queue zur Hand, auch „um sozial wieder Anschluss zu kriegen“. Scholl merkte, „so weit, wie befürchtet, bist du gar nicht weg“ und stürzte sich „Knall auf Fall wieder ins Training“. Die Kugeln begannen wieder zu fallen.

Nur, wovon leben? Scholl merkte, dass er sein „ganzes Berufsleben über Billard selbst gemanagt“ hatte. Da hatte es Sponsoren gegeben („eine große Firma hat mir die Reisen ermöglicht, du trägst deren Logo und kannst die Turniere abklappern“) und Preisgelder. Und jetzt? „Ich bin kein Firmenmensch. Nicht weil ich unsozial wäre, ich arbeite einfach nicht gern für Chefs nach Anweisungen. Aber ich habe festgestellt: Das einzige, was ich richtig gut kann, ist Poolbillard.“ Auch seine Fachberaterin bei der VHS stellte fest: „Der Florian Scholl ist kein Typ für einen normalen Job.“

Nach seiner großen Krise arbeitet Scholl im Bereich IT auf eigene Rechnung nebenher. Und er gibt Trainerstunden. „Das funktioniert alles richtig gut.“ Man ahnt, wie froh der Mann ist, wieder unter Kugeln zu sein. Und er ist schon wieder aktueller NRW-Vizemeister, spielt in der 2. Bundesliga beim PBC Düren-Nord und liegt in der deutschen Rangliste auf Platz 30.

Poolbillard muss sich abgrenzen vom „großen Bruder Snooker“, der sanften englischen Spezialität am großen Tisch und von der lochlosen Dreiball-Karambolage. Poolbillard ist Nischensport. Allein von Turnieren, sagt Scholl, leben in Deutschland vielleicht fünf oder sechs Leute. Mittlerweile kommt sein Sport öfter im Fernsehen, bei Eurosport meist, „zunehmend auch abends, nicht nur nachts wie im DSF vor zehn Jahren, während am Bildrand 0190er Nummern liefen. Ein Desaster fürs Image.“ Seit einigen Jahren haben die „TV Balls“ kleine rote Punkte. Damit kann man in Superzeitlupe die Rotation besser sehen.

Kein Tisch, sagt Scholl, ist wie der andere. „Jeder hat seinen Charakter. Manche haben eine minimale Schieflage, das merkst du gleich. Manchmal muss man das Grün lesen wie beim Golf. Und jedes Queue hat sowieso sein eigenes Leben.“ Alle Spieler haben mehrere solcher Stoßstangen, die zusammengelegt in ein nietenbeschlagenes Ledertäschchen gehören. Sieht etwas albern aus für Außenstehende. „Die aufwändigste Ausrüstung haben oft die unterklassigen Spieler“, weiß Scholl. Sein Queue hat 800 Euro gekostet, andere kosten ein Mehrfaches. Für alle gilt: „Poolbillardspieler haben einen Trieb zur Selbstdarstellung, ein großes Ego und sind alle ein klein bisschen verrückt.“

Die Deutschen sind derzeit in der Masse die Besten der Welt. „Woanders sind nur einzelne gut“, sagt Florian Scholl, wie etwa der Weltbeste Efren Reyes (53) von den Philippinen: „Der ist absolut unerreicht, eine Legende, der ist nahe an der Perfektion.“ Die Perfektion – das ist das Ziel, dem man immer hinterher rennt und das man doch nie erreicht. Also lautet das strategische Ziel, „möglichst keine Fehler zu machen“. Das Skurrile: Manchmal kommt man gar nicht dazu. „Beim Poolbillard kann es dir passieren, dass du bestens trainiert bist und zu einem Turnier kommst und dann spielst du keinen einzigen Ball.“ Weil der Gegner die Aufnahme voll durchzieht und alles versenkt. Solche Momentperfektion hat Scholl auch schon erlebt. „Es macht einen besonderen Reiz aus, den anderen gar nicht an den Tisch zu lassen. Hab ich auch schon geschafft.“

Dann stößt Florian Scholl weiter zu, mal elegant hinterrücks, mal bäuchlings hingefläzt in der Horizontalen. Klock und Klack. Der Arbeitstag ist auch um 23 Uhr noch nicht beendet. „Morgen früh notier‘ ich mir die Sachen, die nicht geklappt haben. Das muss ich dann analysieren und morgens beim Training dran arbeiten.“ Im Film „Haie der Großstadt“, dem Billardepos mit Paul Newman, sagt einer: „Beim Pool musst du wie ein Chirurg arbeiten.“ Florian Scholl nickt entschieden: „Das stimmt.“ Klack.

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