DIE EIGENE ERZÄHLUNG IN DATENMASSE VERWANDELN: Irrtum ist super
TRENDS & DEMUT
Ich habe mich im Fitnessstudio angemeldet. Nur für Frauen und perfekt ausgestattet, um sich bereits nach einigen Wochen happy, weil makellos geformt auf den hedonistischen Markt zu werfen. Bei der Einführung zeigte mir die Club-Angestellte die vollbesetzten Laufbänder, an denen Frauen schwitzend auf den Monitoren vor ihnen Musikfernsehen oder die Nachrichten schauten. Demnächst, so die Mitarbeiterin feierlich, könne man hier beim Laufen auch parallel seine E-Mails abrufen, super bequem!
Man joggt und kann gleichzeitig seine E-Mails checken, eine der vielen kleinen, innovativen Annehmlichkeiten, die das moderne Leben einem heute so bietet. Irgendwann kommt die Google-Brille, Leute tragen am Handgelenk die neue Touch-Screen-Uhr von Sony und an der Jacke den Narration Clip, der unser „Blinzeln“ kopiert, indem er alle paar Sekunden ein Bild macht. Zu sehen sind dann die eigenen Hände (wie im Egoshooter-Computerspiel), die gerade unserem ahnungslosen Gegenüber zuprosten oder der Kassiererin Geld in die Hand drücken. Dabei erinnern all diese „neuen“ Möglichkeiten und Gadgets viel eher an die hölzerne Vorstellung von der „coolen“, gläsernen Zukunft, dargestellt in schlechten Science-Fiction-Filmen. Vor lauter Dokumentieren und Abrufen und Checken und Doppelchecken unseres Lebens haben wir kaum noch Zeit, das, was wir immerzu in unsere Textmasken hacken, überhaupt noch zu erleben. Die eigene Erzählung wird in Datenmasse verwandelt, die man in terabytegroßen Onlinespeichern ablädt. Und weiter geht’s.
Wenn ich früher unbedingt einen Song finden wollte, obwohl ich weder Titel noch Interpret kannte, war der Weg zum Ziel Teil einer Narration, an die ich mich heute noch lächelnd erinnere: Ich wollte diesen Song so sehr, dass ich dem süßen Verkäufer im Bochumer Indieplattenladen die Melodie des unbekannten Stückes mit knallroter Birne vorsummte, in der großen Hoffnung, er würde sie erkennen. Ich liebe diese Geschichte, denn es ist meine Geschichte.
Heute stehen junge Nerds bei Clubnächten einfach nah genug am DJ-Pult und halten ihr Telefon in die Höhe, damit ihre App das Lied erkennt. Zack, zack.
Die Narration ist hier gleich null. Warum? Weil man ohne Hindernisse und Anstrengung an das kommt, was man haben will. Eine Freundin zeigte mir kürzlich eine App, die einem jederzeit sagt, wo gerade potenzielle süße Singles auf einen warten. Man kriegt massenhaft Fotos von Lonely Hearts zugeschickt und blättert durch Gesichter wie durch Kleider an der Stange. Weiter. Weiter, weiter, stopp! Eine künstlich erzeugte Art von „Macht“ bekommt man zusätzlich durch das Detail, dass ein dickes „NOPE!“ auf dem Gesicht des Singles erscheint, sobald man ihn vom Screen wischt.
Alles wird optimiert. Der Weg zum Partner, zur seltenen Platte, zum Termin. Wie oft ich mich früher, mit einem Zettel in der Hand und auf der Suche nach der Adresse, verlaufen habe und sich das Verlaufen verwandelte in fabelhafte Orientierungslosigkeit. Heute lässt mein Smartphone es weder zu, dass ich mich verlaufe, noch dass ich einen richtigen Menschen ansprechen und nach dem Weg fragen muss. Wozu auch Menschen ansprechen, die sich irren, wenn man eine nicht irrende Maschine in der Hand hat? Weil Irrtum eines der besten Dinge ist, die uns passieren können.
■ Julia Grosse ist freie Publizistin und lebt in Berlin
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