: Stummer Abschied vom Leben
AUS DÜSSELDORF LUTZ DEBUS
Heute nacht ist niemand gestorben. Die Kerze brennt nicht. Das dicke Kondolenzbuch ist geschlossen. Die kleine Sitzgruppe davor, gleich hinter dem Eingangsbereich des Nelly-Sachs-Hauses, ist verwaist. Ein paar Schritte weiter, in der Cafeteria, sitzen zwei alte Frauen mit hochgestecktem, weißen Haar. Sie sitzen an getrennten Tischen. Sie warten, schweigen, schauen aus dem Fenster. Draußen ziehen Nebelschwaden vorbei.
Die Namen der Beteiligten sollen nicht genannt werden. Nicht der Name des Heimleiters, nicht der Name des Pflegedienstleiters, nicht der Name der Mitarbeiterin T., die für die religiöse Betreuung zuständig ist. Natürlich auch nicht die Namen der Bewohner. Denn das Nelly-Sachs-Haus ist kein normales Altenheim. Es ist das einzige in Düsseldorf, vor dem Tag und Nacht ein Polizeiauto steht. Träger der Einrichtung ist die Jüdische Gemeinde. Es gibt so viele Terroristen auf der Welt, wird später der Heimleiter versuchen zu erklären.
Jetzt legt er seine Stirn in Falten. Wie Juden heutzutage in Deutschland sterben? „Juden sterben wie Christen, wie Mohammedaner, wie alle anderen Menschen auch“, erklärt er zunächst. In jenem Augenblick seien doch alle gleich. Ob sich denn am Ende des Lebens erfahrenes Leid nicht noch mal in Erinnerung ruft?
Die Frage scheint dem Heimleiter nicht zu gefallen. 80 Prozent der Menschen, die im Nelly-Sachs-Haus sterben, seien schwer dement, sagt er. Viele Komapatienten warteten hier auf ihren Tod. Da seien keine großen Regungen wahrnehmbar. Ob jene das Sterben bewußt erleben, sei fraglich. Und die anderen 20 Prozent? „Wenn Sie darüber berichten wollen, wäre es ehrlicher, die Zeitungsseite weiß zu lassen. Das wäre die passende Aussage.“
Die meisten Überlebenden des Holocaust hätten ein Leben lang geschwiegen. Und auch am Ende ihres Lebens schwiegen sie, sagt der Heimleiter. Es sei kein schamhaftes Schweigen. Es sei ein dumpfes, ein stilles Schweigen. Gibt es denn gar keine Ausnahmen? Doch, „die H.“, so erinnert sich der Pflegedienstleiter, „die hat immer davon gesprochen“. Vom Lager. Anklagend. Verbittert. Zu ihren deutschen, auch nichtjüdischen Pflegerinnen hatte sie eigentlich ein ganz gutes Verhältnis. Aber die Deutschen als solche hasste sie, machte auch keinen Hehl daraus. Sie lebte in Deutschland, in einem nördlichen Stadtteil von Düsseldorf, und hasste alle Deutschen. Es fiel ihr schwer, Abschied zu nehmen, loszulassen, zu gehen, berichtet die Mitarbeiterin T., die im Nelly-Sachs-Haus für die religiösen Belange zuständig ist. Als hätte die alte Frau nicht aufhören können, verbittert zu sein, zu hassen. Als hätte sie eine Aufgabe noch nicht ganz erledigt.
Ein Problem seien auch die Angehörigen, sagt der Pflegedienstleiter. Vielleicht sei es ein Ausdruck der jüdischen Mentalität, dass die Familie einen so hohen Stellenwert hat. Vielleicht sei es aber auch eine Folge der Shoa, dass die Beziehung zwischen den Sterbenden und deren Partnern und Kindern so innig ist. Der Heimleiter verweist auf die Organisation „Amcha“, die weltweit die psychologische Betreuung der Holocaustopfer und deren Angehörigen gewährleistet. Dort könne man sicher etwas zum Thema in Erfahrung bringen.
Dann gibt er, wenn auch zögerlich, doch noch etwas vom Heimalltag preis. Zwei Söhne eines Bewohners zum Beispiel kämen ein Mal im Monat aus Chicago und Los Angeles angeflogen, um ihren kranken Vater zu besuchen. Eine 53-jährige Frau habe in den letzten Wochen vor dem Tod ihrer 92-jährigen Mutter fast durchgehend in deren Zimmer gelebt und auf einem Klappbett geschlafen. „In anderen Heimen gibt es nicht so viele Einzelzimmer, da ist das eben nicht möglich“, versucht sich der Heimleiter mit einer rationalen Begründung. Dann aber: „Der Lebenssinn dieser Frau war die Betreuung ihrer Mutter.“
Mitarbeiterin T. erzählt von einer Frau, die ihren todkranken Mann gepflegt habe. Die Ehefrau habe sich bei dieser Aufgabe völlig vergessen und in der Zeit beängstigend abgenommen. Man habe sie fast zwingen müssen, etwas zu essen. „Die Angehörigen wollen dem Tode trotzen“, erklärt Mitarbeiterin T. Der Heimleiter widerspricht: „Das gibt es überall. Das ist der Selbsterhaltungstrieb.“ Nein, in anderen Heimen, in christlichen Heimen, in staatlichen Heimen sei es nicht so, wendet der Pflegedienstleiter ein. Er habe schon woanders gearbeitet. Aber nirgendwo sonst sei die Begleitung der Sterbenden so intensiv wie im Nelly-Sachs-Haus gewesen.
Diese Begleitung in den letzten Tagen, berichtet die Mitarbeiterin T., sei individuell völlig unterschiedlich zu gestalten. Wenn keine Verwandten da seien, werde sie selbst eben Teil einer Ersatzfamilie. Ihre Aufgabe sei manchmal ganz simpel: die Hand halten, vielleicht Musik hören. Vorlesen.
Vor einigen Tagen, erzählt T., habe sie einer schon völlig regungslosen Frau ein Gedicht von Schiller vorgelesen. In einer Zeile habe sie sich vertan. Sofort habe die neben ihr liegende Frau sie verbessert. Dem Tod so nah und doch ein Gedicht Schillers präsent. Das habe sie beeindruckt. Manchmal sei die lange, intensive Begleitung der Sterbenden schwer auszuhalten. Sie habe einen fast familiären Kontakt zu den Menschen hier. In anderen Altenheimen werde viel von professioneller Distanz geredet. Dies lasse sich im Nelly-Sachs-Haus nicht durchhalten. Viele der alten Menschen hier hätten, als sie noch Kinder waren, ihre ganze Familie verloren. So sei es unmöglich, sie nun allein leiden zu sehen. Die Augen der Mitarbeiterin wirken in diesem Augenblick unendlich traurig. Da schiebt eine alte Frau mit ihrem Rollator vorbei, hat Schwierigkeiten, die Tür zu öffnen. Die Mitarbeiterin springt auf, hilft ihr. Anschließend verabschieden sie sich mit Wangenküssen und ein paar Worten auf Hebräisch.
Auch nach dem Tod ihrer Schützlinge bleibt die Mitarbeiterin für sie zuständig. Im Gegensatz zu anderen Heimen bleibt das Zimmer der Verstorbenen bis zu zehn Tagen in seinem Zustand. Erst nach der Beerdigung wird es renoviert und neu belegt. Angehörige haben in der Zeit die Möglichkeit, in jenem Zimmer Abschied zu nehmen. Diesen Luxus leisten sich andere Heime nicht. Auch sonst unterscheidet sich der dann folgende Weg von dem in christlichen Einrichtungen. Nach der rituellen Waschung, die die Mitarbeiterin T. durchführt, bekommt der Leichnam schlichte weiße Kleidung angezogen. Der Sarg ist aus ungehobeltem Holz. Keine Blumen oder Kränze auf dem Grab. Keine Musik bei der Beerdigung. Etwa einen Kilometer vom Heim entfernt ruhen die ehemaligen Bewohner auf dem Jüdischen Friedhof.
„Vielleicht“, so bemerkt der Heimleiter zum Abschied, „wäre eine weiße Seite wirklich am ehrlichsten.“ Draußen, vor dem Nelly-Sachs-Haus, schieben alte Menschen ganz alte Menschen in Rollstühlen die Parkwege entlang. Die weiter entfernten ungleichen Paare verschwinden im dichter werdenden Nebel.
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