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Seltsame Früchte an den Bäumen

CULTURAL STUDIES Der Kulturhistoriker Mark Sealy spricht in Frankfurt über seinen Lehrer Stuart Hall und historische Bedingungen schwarzer Existenz

VON KLAUS WALTER

Sicher nur ein Tippfehler. Das Frankfurter Weltkulturen Museum lädt ein zu einem Vortrag von Mark Sealy, Kulturhistoriker und Direktor von Autograph (Association of Black Photographers) in London. Als „ehemaliger langjähriger Mitarbeiter von Stuart Ball“, so die Ankündigung, spricht er „über den Begründer der Cultural Studies“. Ball oder Hall, es geht um die Politik der Unterschiede.

Der Unterschied zwischen Großbritannien und Deutschland in Sachen Cultural Studies war lange so fein und so politisch wie der zwischen Pur und Pulp. In England lieben sie Jarvis Cocker, den Chronisten der Klassengesellschaft. Pulps „Common People“ erzählt von einer Studentin aus besseren Kreisen, die ihr Leben mit „gewöhnlichen Menschen“ verbringen, und Sex haben will mit common people like you.

Singender Bausparvertrag

Deutsche mögen Hartmut Engler, den singenden Bausparvertrag. Und Purs „Abenteuerland“, den Soundtrack zur Kehrwoche. Pur oder Pulp? Falsche Frage.

Bei allen Unterschieden haben beide Bands eines gemeinsam: sie sind weiß, vertreten die Mehrheit, müssen keine Auskunft geben über ihre Herkunft. Im Unterschied zu denen, die die Differenz mit der Haut tragen.

„Different“ ist der Titel eines Buches von Mark Sealy zum Thema Fotografie und Identität. Co-Autor ist Stuart Hall.

Bei einer Lotterie gewinnt der 1932 in Jamaika geborene Hall einen Studienplatz in Oxford und übersiedelt als Teil der Generation Windrush ins Land der Kolonialmacht. Das Motorschiff „Empire Windrush“ bringt 1948 492 Menschen aus den damals noch West Indies genannten Kolonien ins damals noch sogenannte Mutterland. England braucht Arbeitskräfte.

Viele Schiffe folgen, auch die Geschichte der Windrush Generation hat Mark Sealy dokumentiert. Ein Studienobjekt aus dem Bilderbuch der Cultural Studies, damit ist Stuart Hall prädestiniert als Forscher in eigener Sache, in eigener Differenz. 1964 wird Hall an die Universität Birmingham berufen, zum Centre for Contemporary Cultural Studies.

Ab 1968 leitet er das Institut, bis zu seinem Tod im Januar 2014 ist Stuart Hall der Doyen der Cultural Studies.

Als solcher geistert er an diesem Vorsommerabend in der Weltkulturenvilla am Frankfurter Museumsufer angenehm selbstverständlich durch den angenehm selbstverständlich diskontinuierlichen Vortrag seines Adepten und Freundes Mark Sealy. Der ist klug genug, die Frage nach seiner nichtweißen Haut selbst zu beantworten – gestellt hätte sie niemand, höflicherweise.

Weißer Blick

Exotisch, schwierig, aber auch aufregend sei seine Kindheit gewesen, als Sohn einer Blondine und eines karibischen Briten in Newcastle.

Fotografie und Gewalt ist Sealys Thema, Hunderte Fotos von Menschen dunkler Haut zeigt er und fragt nach dem, was man nicht sieht: nach den Fotografen. Was haben sie sich dabei gedacht, als sie zum Beispiel einen Baum fotografiert haben mit Strange Fruits?

Seltsame Früchte hängen an den Bäumen im Süden, singt die US-Jazzsängerin Billie Holiday in ihrem bekanntesten Song. Die Früchte sind schwarze Opfer weißer Lynchmörder, aufgeknüpft an den Bäumen des toxischen Südens. Sealy zeigt ein Foto von einer dieser Strange Fruits und dann geschieht etwas buchstäblich Verrücktes: Der weiße Blick, mein weißer Blick registriert das Lynchopfer, schon oft gesehen, traurig, man kennt das.

Das wirkliche Interesse konzentriert sich auf ein etwa achtjähriges weißes Mädchen. Im Sonntagsstaat steht es im Kreise seiner Lieben, schaut hoch auf den toten Mann im Baum – und lächelt. Die Perspektive kehrt sich um: Obszön, empörend ist nicht das Bild des gehängten Mannes, obszön, empörend ist das Bild des weißen Mädchens, das den schwarzen Mann mit einem Lächeln betrachtet, wie eine Giraffe im Zoo.

Je mehr Fotos Sealy zeigt, desto sichtbarer werden die Gewaltverhältnisse, desto mehr stellt sich die Frage nach dem unsichtbaren fotografierenden Subjekt und seiner Position. Sealy formuliert viel im Fragemodus, man könnte ihm stundenlang zuhören. Immer wieder nimmt er die Kurve zu Stuart Hall. Der habe die Fotografien von Robert Mapplethorpe gemocht, die der New Yorker von schwarzen Männern gemacht habe, erzählt Sealy grinsend.

Der weiße Mapplethorpe inszenierte nackte schwarze Männer mit imposanten Schwänzen, das musste Erinnerungen hervorrufen an die Fotos von Sklavinnen und Sklaven, deren nackte Körper vermessen werden. „Mir gefallen die Bilder“, habe Hall gesagt, seine Kollegen hätten sich Sorgen gemacht: Ist er etwa schwul?

Stuart Hall gilt auch als Godfather des Multiculturalism. Zum deutschen Multikulturalismus verhält sich der britische Multiculturalism wie Pulp zu Pur, da passt es, dass Mark Sealy nach Frankfurt gekommen ist. Hier begründete Daniel Cohn-Bendit einst das erste Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Deutschland. Heute besteht die Kernkompetenz des Amtes darin, bei Straßenfesten für kulinarische Vielfalt zu sorgen. Der Multiculturalism von Stuart Hall und Mark Sealy stellt Fragen nach Sichtbarkeit, Repräsentanz, Teilhabe.

Und er geht Konfrontationen nicht aus dem Weg. „Wenn ich gefragt werde, warum ich hier bin“, erzählt der schwarze Brite Sealy, „dann sage ich: Wir sind hier, weil ihr dort gewesen seid.“ Postkolonialismus in einem Satz, das Lachen der Erkenntnis im Saal, Cultural Studies leicht gemacht.

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