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Ehre den Spinnern!

ZUM URTEIL DES BVerfG Offener Brief an den Bundespräsidenten

In vielen Städten heißen Straßen nach Spinnern, setzt man ihnen Denkmäler

Sehr geehrter Herr Gauck,

ich kenne und bewundere Sie für Ihren Kampf für die Freiheit, das Wort Freiheit in aller Freiheit möglichst oft und sinnlos zu kombinieren, und für Ihr nie nachlassendes Engagement, uns allen damit beachtlich auf den Wecker zu fallen. Sie sind ein Mann des Wortes, wenn auch nur dieses einen Wortes, des ominösen Wortes Freiheit – aber wir alle haben uns inzwischen an Ihren Freiheitstick gewöhnt und lauschen den täglichen Ansprachen, die Sie halten, wie dem Rauschen der Wasserleitung. So weit, so klar.

Leider ist in den letzten Tagen ein weiteres Wort zu Ihrem Sprachschatz hinzugekommen, und ich möchte Sie hiermit dringend auffordern, davon Abstand zu nehmen. Es handelt sich um das Wort Spinner. Streichen Sie es, verehrter Herr Bundespräsident, verbannen Sie es bitte unverzüglich aus Ihrem Vokabelschatz.

Es ist nichts weniger als ein Skandal, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Woche entschieden hat, dass Sie als Bundespräsident dieses Wort selbstständig verwenden dürfen. Mag sein, es ist rechtlich nicht zu beanstanden, wenn Sie Rechtsradikale als „Spinner“ bezeichnen. Die Entscheidung ist schön für Sie, schön für die Richter in Karlsruhe und schön für die Nazis, die sich auf die Weise von der höchste Instanz geadelt fühlen dürfen – nicht schön ist sie für uns, für uns Spinner. Wir sind empört, wir sind betroffen, und wir sind nur deshalb nicht „am Boden zerstört“, weil das eine bescheuerte militaristische Formulierung ist.

Ohne Grund und ohne Not werden wir, seit Menschengedenken darauf bedacht, die Stupidität des normalen Alltagsvollzugs mit kreativen Einsprengseln zu versehen, in einen Topf geworden mit Leuten, die alles mögliche sind – Rassisten, Dumpfbacken, Unmenschen – aber Spinner? Niemals! Denn Spinner ist ein Ehrentitel. Spinner zu sein heißt den Mut zu haben, die Menschheit zu bereichern. Mit verrückten Dingen. Mit versponnenen Dingen. Es ist eine Unverschämtheit von Ihnen, Herr Gauck, uns mit der beknacktesten aller Menschheitsplagen, den alten und neuen Nazis, auf eine Stufe zu stellen.

Hitler war kein Spinner, die Konzentrationslager waren keine Fantasiegebilde. Der Holocaust – ein reines Hirngespinst? Das meinen Sie wohl nicht, Herr Bundespräsident. Weder die Angehörigen des NSU noch ihre Helfer haben je gesponnen. Der rechte Mob, die Rechtsradikalen sind in allem, was Sie tun, das Gegenteil von Spinnern. Und wenn sie an die Macht kommen sollten, wäre es eine ihrer ersten Maßnahmen, die Menschen, die sie für Spinner halten, zu drangsalieren und wegzusperren.

Nennen Sie, Herr Gauck, Rechtsradikale Rechtsradikale! Nennen Sie Mörder Mörder! Nehmen Sie sich die Freiheit, das, was Sie meinen, präzis zu benennen. Und verunglimpfen Sie nicht weiter uns unbescholtene Spinner!

Im Übrigen darf ich Sie daran erinnern, dass eine Welt ohne Spinner, die sie offenbar anstreben, nicht nur undenkbar ist, sondern auch ungenießbar, ja unaushaltbar. Spinner sind Religionsgründer, Entdecker und Weltverbesserer. Sie sind das Salz in der ansonsten reichlich ungesalzenen Suppe des Alltags. Sie kommen plötzlich an mit einem Ding ohne Ecken und nennen es Rad. Sie machen sich auf den Weg zu den Indianern außerhalb Indiens. Sie bringen etliche Gewürze heillos durcheinander, und siehe, es gibt Currywurst. Frisuren, Rolltreppen, Kaugummis, Asterix-Hefte – alles ein Werk, alles Werke von Spinnern. Ich kann daran beim besten Willen nichts Verwerfliches finden.

Auch mich persönlich werden Sie, sehr geehrter Herr Gauck, wenn Sie diese Zeilen lesen, als Spinner bezeichnen. Sehr gern. Ich bedanke mich. Meinetwegen können Sie das tun. Aber bitte nicht jeden dahergelaufenen Wald-und-Wiesen-Antisemiten, nicht jeden empathiebefreiten Straßenfascho, und bitte nicht die Fans des Stumpfsinns.

Der größte Spinner der Welt – war es Jesus, Marx, Walt Disney? Man wird ewig darüber streiten. In vielen Städten heißen Straßen nach Spinnern, gibt es Denkmäler von Spinnern, die als Schriftsteller verehrt werden. Gleich hinter Ihrem Amtssitz, dem Schloss Bellevue, befindet sich zum Beispiel die Klopstockstraße. Parallel dazu verläuft die Lessingstraße. Ganz in der Nähe liegt die Akademie der Spinner, pardon: der Künstler. Sollten das die Rechtsradikalen sein, sehr geehrter Herr Bundespräsident, die Sie und das Verfassungsgericht im Auge haben? Ist das Ihre Botschaft? Und glauben Sie selbst daran?

Ich habe eine bessere Idee und die – wenn auch nur leise, schier lautlose – Hoffnung, Sie noch zu stoppen. Halten Sie, Herr Gauck, mal inne! Und halten Sie, vor allem, uns da raus!

Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr RAYK WIELAND

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