herr tietz macht einen weiten einwurf: Tempospaß am Wilseder Berg
FRITZ TIETZ über gähnen machende Rodelübertragungen und die therapeutische Wirkung des Neujahrsspringens
Der Rodelsport gilt als Domäne der Langeweile. Schon weil er von einer Wintersportnation so überlegen beherrscht wird: Seit Menschengedenken gewinnen immerzu nur die Deutschen. Aber auch sonst haftet dem Rodelsport so gar nichts Begeisterndes an. Mich zumindest vermochte die TV-Übertragung eines Rodelwettbewerbs noch nie besonders lange an den Bildschirm zu fesseln. Haste einen der Turboschlittler durch den Eiskanal flitzen gesehen, haste im Grunde alle gesehen. Der Rest ist die Kumulierung eines sich höchstens um ein paar Hundertstelsekunden unterscheidenden Immergleichen, eine gähnen machende Redundanz, die allenfalls von den allerdings viel zu seltenen Stürzen gebrochen wird.
Es ist bekannt, dass man die ebenfalls erschütternd hohe Monotonie des Skispringens als eine Art therapeutisches Meditativum einsetzen kann. Die traditionell hohen Fernseheinschaltquoten beim alljährlichen Neujahrsspringen kommen wahrscheinlich nur dadurch zustande. Von den Ausschweifungen der vorangegangenen Silvesterfeier körperlich zermürbt, geben sich die Leute der frugalen Stupidität dieser Sportart hin, um – von den eintönigen Bildern gleichsam sedativ medikamentiert – dabei mählich zu rekonvaleszieren. Vom Rodeln, obschon im Wettbewerbsablauf ähnlich öde strukturiert, scheint kein solcher Genesungseffekt auszugehen. Sonst gäbe es doch längst auch ein Neujahrsrodeln. Vermutlich ist aber das Rodeln zu hektisch und kurvig anzuschauen und wirkt eher schwindelfördernd. Dazu kommen die harschen Geräusche. Das Kratzen von geschliffenen Eisenkufen auf hartem Eis ist jedenfalls nicht gerade der Laut, der einem bedröhnten Schädel wohltut. Erst recht nicht nach einer Nacht, die nicht umsonst in einigen Landstrichen die der reitenden Leichen genannt wird.
Schon etwas her, als ich einmal in einer solchen Nacht zwar keine Leiche, sondern nur meinen Davos-Schlitten ritt. Dies aber auf einer derart flotten Abfahrt, dass ich durchaus als Leiche hätte enden können. Statt zur üblichen Silvesterparty hatte ich mich mit Freunden zum geselligen Rodeln im frisch eingeschneiten Teutoburger Wald verabredet. Ich erinnere mich an eine wunderschöne, mondhelle Nacht. Natürlich war aus gegebenem Anlass reichlich Alkohol mit im Ausflugsgepäck – und sehr bald auch im Blut. Ohne hätte ich mich jedenfalls kaum auf die abschüssige Strecke getraut, die mitten durch den Wald und eine scharfe S-Kurve führte. Kaum einer, der die sturzfrei packte. Man musste sich nur, bevor man aus der Bahn Richtung Wald katapultiert wurde, rechtzeitig vom Schlitten werfen. Andernfalls riskierte man einen Baumfrontalzusammenstoß. Ein Wunder, dass es am Ende nur ein Arm war, den sich Kumpel Rudi bei dieser tollkühnen Rodelei brach. Und weil es mein Schlitten war, auf dem er verunglückte, ward dieser fortan nur noch der Davos-Todesschlitten genannt.
Den ich übrigens heute noch besitze. Und auf dem bis heute, vorausgesetzt es liegt Schnee, zu Silvester gerodelt wird. Nicht mehr in der Nacht, sondern der Kinder wegen schon am Nachmittag. So ist’s mittlerweile zur schönen Familientradition geworden, an rodelguten Silvestern die einzig bemerkenswerte Anhöhe der Nordheide, den Wilseder Berg zu besteigen. Inmitten eines Naturschutzgebietes gelegen, muss man ihn vom Parkplatz aus noch fünf, sechs Kilometer weit erwandern. Was stets nur unter allerlei Kindergenöle möglich ist. Welches aber sofort erstirbt, sobald man den Gipfel erreicht und die erste Schlittenabfahrt von ihm absolviert hat. Für einen, der sich schon die steilsten Hänge des Teutoburger Walds hinabgestürzt hat, ist der Wilseder Berg eher ein gemächlicher Klacks. Der Brut aber gereicht er zum echten Tempospaß, von dem sie gar nicht genug kriegen kann.
Kaum möglich übrigens, danach noch groß ins neue Jahr hineinzufeiern. Vom Wandern und Rodeln erschöpft, sind häufig nicht nur die Kinder schon weit vor Mitternacht eingeschlafen. Mit der erfreulichen Folge, dass man sich anderntags nicht beim Neujahrsspringen auskurieren muss. Hoffentlich ist dieses Silvester wieder Rodel gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen