: Erregtes Warten
Wünsche sind Zwitter im Haushalt des Begehrens. Wir wissen nie, ob ihre Erfüllung Glück oder Unglück bedeutet. Über die Magie des Verlangens
VON ANDREA ROEDIG
Es war ein schwerer, grün-samtiger Vorhang, der uns vom Glück trennte. Ins sogenannte Bauernzimmer war das Wesen im weißen Hemdchen eingeflogen und hatte Dinge aufgebaut, etliche Tage vorher schon, und man durfte nun um nichts in der Welt hinter diesen Vorhang schauen, der das Bauernzimmer vom Wohnzimmer trennte. Es wäre einfach gewesen, ihn zu lüften, durch einen Spalt zu spähen. Aber zu wissen, vor der Zeit zu wissen, hätte alles zerstört. Weihnachten ist die Kunst des süßen Triebaufschubs; die Kunst der Produktion und der Erfüllung von Begehren. Das Medium Wunschzettel ist dabei wichtig: Es gibt dem ungenauen Verlangen eine Form und dem Begehren einen Ausdruck.
Der Philosoph Martin Seel glaubt, dass zum Glück gehört, überrascht zu werden – und in dem Sinne mehr zu bekommen, als man sich selber hat vorstellen können. Doch die Logik des Wunschzettels ist eine andere. Sie versetzt in einen dem Glücksspiel vergleichbaren Zustand, denn Wünsche entwickeln, sobald wir sie einmal für erfüllbar halten, eine sehr spezielle Dynamik. Wir sind angespannt, aufgeregt, das Herz schlägt höher, der Atem wird schneller, und ob auch Zittern dabei ist, hängt von der Intensität des Wünschens ab. Die Spannung liegt nicht in der Frage, was man kriegt, sondern darin, ob man das kriegt, was man ersehnt. Wünschen ist ein erregter Zustand des Wartens. Es ist – im religiösen wie im weltlichen Sinn – ein Spiel, ein gebändigtes Ritual, ein Fake des Eigentlichen. Der echte Wunsch nämlich ist ein Monster, und mit ihm ist nicht zu spaßen.
Äußere, was du willst, sonst kann es nicht in Erfüllung gehen. Es geht beim Wunsch im Kern immer um Erlösung. Der Wunsch muss ausgesprochen werden, denn er ist die Wurzel aller Kommunikation, und er ist Abhängigkeit pur – wir geben uns in die Hände des Anderen. Der Wunsch ist Angewiesensein. Sag dein Begehren, verliebtes Herz, sonst bleibst du allein. Warum sonst gibt es Fürbitten, Gebete und Votivtafeln? Wallfahrtsorte sind Gralsstätten verzweifelten Wünschens. Doch wie bei allem, was von tiefer Bedeutung ist, gilt auch vom Wunsch immer das Gegenteil. Sieh die Sternschnuppe, blas die verlorene Wimper weg, hör den Kuckuck schreien, nies dreimal und wünsch dir was – aber verrat nicht, was. Warum dürfen wir manche Wünsche nicht aussprechen, es sei denn um den Preis, dass wir ihre Erfüllung riskieren? Wunsch und Glück hängen zusammen, aber sie bilden kein Kausalverhältnis. Wer Begehren äußert, gibt sich preis, verrät seine verwundbare Stelle. Der Wunsch zeigt, wo wir wachsen wollen und wo man uns treffen kann; in ihm fallen das Mächtigste und das Schwächste zusammen.
Es gibt diese alte Angst vor dem Neid der Götter, die den Menschen strafen, wenn er zu hoch fliegt. Daher rührt die abergläubische Regel, dass man, was man wünscht, nicht verraten soll, denn sonst tritt das Gegenteil ein. Wenn Wünsche gefahrlos in Erfüllung gingen, wären wir Götter. Lars von Triers Film „Breaking the Waves“ ist eine böse Fabel darüber. Beth will nach der ersten sexuellen Erweckung um keinen Preis mehr von ihrem Ehemann Jan lassen. Sie klammert sich an den Hubschrauber, der Jan nach den Flitterwochen wieder auf die Bohrinsel bringen soll, auf der er arbeitet. Sie will ihn nicht weglassen. „Und immer ins Ungebundene gehet die Sehnsucht“, sagt der verzweifelte Hölderlin. Beth fleht Gott an, dass er ihr den Mann zurückbringe. Immer wieder hält sie erbitterte Zwiesprache mit dem Allerhöchsten, und der erhört schließlich ihr Gebet. Jan kommt zurück, querschnittgelähmt vom Hals an abwärts nach einem Unfall auf der Bohrinsel. Sex war einmal.
Dies ist die dreifache Lehre des christlichen Gottes in seiner liebend-sadistischen Strenge: Du sollst nicht zu sehr begehren. Der Mächtigste bin ich. Du weißt nie, was herauskommt, wenn ich deinen Wunsch erfülle. Wer wirklich wünscht, ist blind, fixiert auf das eine, dass sein Wunsch sich erfülle – koste es, was es wolle. Doch kein Wunsch lässt sich so formulieren, dass die Mächte, die ihn hören, ihn nicht missverstehen könnten oder uns narren; indem sie wortwörtlich nehmen, was wir vielleicht nur übertragen meinten. Der Wunsch hat immer einen unscharfen Rand, und weil wir die Konsequenzen nicht kennen, wissen wir nie, ob ein Begehren unser Glück befördert oder unser Unglück. Hüte deine Wünsche, sie könnten in Erfüllung gehen!
Andrej Tarkowskijs Film „Stalker“ erzählt von der Angst vor der Erfüllung. Hier lassen sich zwei Männer von einem dritten, dem Stalker, in eine geheimnisvolle Zone bringen, zu einem Zimmer, das dem, der es betritt, die geheimsten Wünsche erfüllt. Am Ende der Reise angelangt, wagt keiner der drei Männer, den magischen Raum zu betreten, weil jeder auf seine Weise fürchtet, insgeheim vielleicht etwas zu wünschen, was man nicht wollen kann, den Tod einer geliebten Person zum Beispiel. Das moderne Subjekt kann sich selbst so wenig trauen wie das vormoderne den Göttern. Gut, dass manche Wünsche geheim sind, uns selbst verborgen und nur in Träumen auftauchen, die ja, nach Freud, in der Regel Wunscherfüllungen sind. Wir wachsen in den Wünschen über uns selbst hinaus und über das, was wir tragen könnten, weshalb das Begehren oft auch mit Angst einhergeht. Sieh, wovor du dich fürchtest, in der Nähe siedelt oft auch ein Wunsch.
Sagen Wünsche die Wahrheit? „La vérité est grise“, schreibt André Gide, die Wahrheit ist grau. Der Wunsch aber ist bunt, rot oder schwarz, er ist Entweder-oder, Glück und Unglück sind in ihm durch einen Hauch geschieden, der Wunsch ist immer eine Gratwanderung. Natürlich gibt es Wünsche, die wir gar nicht verwirklichen wollen, Träumereien oder Wagnisse, die nur fantasiert oder als Spiel einen guten Sinn haben. Oft schlummert das Monster, oder wir kennen es gar nicht und leben gut ohne es. Meist ist es auch nicht der Wunsch selbst, der gefährlich ist – erst der Gedanke, er könnte in Erfüllung gehen, macht ihn zu Dynamit und uns zu Wracks unseres Begehrens. Grimms Märchen unterscheiden immer den demütigen vom gierigen Charakter – den Fischer von seiner Frau. Der Wunsch hat die Struktur der Verliebtheit. Auch hier gibt es den einen, kurzen Augenblick, in dem der Gedanke aufscheint, das Begehren könnte mehr als eine Fantasie sein, und schon ist kein Halten mehr.
Wünschen wir immer nur Dinge, die nicht in Erfüllung gehen, oder gehen die Dinge nicht in Erfüllung, weil wir sie uns wünschen? Es ist etwas Verhextes am Wunsch, ein Riss geht durch ihn hindurch. Was den Wunsch erst möglich macht, die Abhängigkeit vom Anderen, vom Zufall, vom Schicksal, macht seine Erfüllung auch unmöglich; Lacan spricht nicht umsonst von der „Dialektik des Begehrens“.
Weil der Wunsch konkret ist , macht er gierig, abhängig und verbohrt, und weil wir verbohrt sind, bekommen wir nicht, was wir wollen. Es ist, als wolle der Wunsch sich nicht zwingen lassen, als müssten wir ihn, das Flüchtige, auch flüchtig behandeln. Das aber können wir nicht, wenn wir wirklich wünschen. So wie Wichtiges niemals in angestrengter Konzentration zu erkennen ist, so wie nur der etwas geschenkt bekommt, der nichts will, scheint der Wunsch sich nur zu erfüllen zu können, wenn wir das Prinzip des Wunsches loslassen.
Angesichts dieser Logik mag man fragen, ob Wünsche überhaupt erfüllbar sind, denn schließlich rennt der Wunsch sich stetig selbst davon. Vieles am Wunsch ist, einmal befriedigt, eben kein Wunsch mehr, oder das Begehren erweist sich im Nachhinein als ein anderes. Die leichte Tristesse des Happy End gemahnt daran, dass Wünschen manchmal schöner ist als wahr werden.
Die negative Logik ist der Fluch des Wunsches und zugleich manchmal seine Rettung. Denn irgendetwas erfüllt sich immer. Die Objekte, an die sich das Begehren heftet, sind ja Fetische, nie das Eigentliche, das nicht benennbar ist. Weil die Wünsche breiter und tiefer sind als die Konkretion, mit der wir sie erfassen, können sie hinterrücks doch an anderer Stelle glücklich machen.
So zumindest ist die Hoffnung. Weil die Wahrheit eben wirklich grau ist, raten Märchen, man solle die Finger vom zu starken Wünschen lassen. Zähme deine Leidenschaften, das Glück liegt im Mittelweg und die psychische Gesundheit im Realitätsprinzip. Reichtum lässt sich auch anders erlangen, als du denkst, die Libido ist frei verschiebbar. Hans ist nur im Glück, weil er jedem schlechten Tausch etwas Gutes abgewinnen kann. Vertrau auf die Güte des Schicksals, lass dich beschenken, und hör auf zu wünschen. Ohne diese Flexibilität würden wir nicht überleben. Auch davon handelt das Ritual Weihnachten, es ist doch immer eine kleine Übung in Enttäuschung.
Doch was machen wir mit dem großen Wunsch, dem Ungeheuer? Manchmal hängt das ganze Leben dran, Gesundheit, ein Kind, eine Liebe, alles würde anders werden mit einem Ja oder einem Nein. Es gibt Wünsche, bei denen es sich anfühlt, als würden wir sterben, wenn sie nicht in Erfüllung gehen. Das ist ein Skandal, wie der Tod. Manchmal hätte man genau bekommen können, was man sich gewünscht hat und es wäre gut gewesen. Eine Erlösung. Ein erfülltes Begehren macht im besten Fall eines: wunschlos glücklich.
ANDREA ROEDIG, 44, war bis Juni 2006 Leiterin des Kulturressorts der Wochenzeitung Freitag. Sie lebt derzeit als freie Autorin in Berlin und wird im neuen Jahr – wunschgemäß – nach Wien ziehen
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