: Das Telefon klingelt – und alle lachen
Es begibt sich allabendlich auf einer der Berliner Bühnen, dass junge Menschen ihre Alltagstexte vorlesen. Donnerstags sogar im Wedding – beim Geschichtenwichteln der Brauseboys
Von Nina Apin
Wichteln ist eine der nervigsten Begleiterscheinungen der Vorweihnachszeit. Wenn Kollegen und Freunde in geselliger Runde geschenkverpackte Kerzenhalter, Küchenwecker und anderen nutzlosen Krempel aus dem Vorjahr tauschen, ist das meist schon für die Beteiligten grenzwertig. Für Außenstehende aber ist es öde bis unerträglich. Wer also zum Wichteln Publikum bittet, sollte besser mehr im Sack haben als ein paar Pferdekopfbroschen.
Im Wedding lädt die Lesebühnengruppe Brauseboys zum Geschichtenwichteln. Etwa vierzig Zuhörer sitzen in der Galerie Laine Art in den Osramhöfen auf Holzbänken. Einige von ihnen müssen Stammgäste sein, die jeden Donnerstag zu den Lesungen der Brauseboys kommen, denn sie lachen auch an Stellen, die nur für Eingeweihte lustig sind. Die fünf Brauseboys Volker Surmann, Hinark Husen, Robert Rescue, Heiko Werning und Frank Sorge schenken sich gegenseitig Geschichten, die im Stil des Beschenkten geschrieben sind. Dieser muss dann ans Mikrofon treten und die unbekannte Geschichte möglichst unfallfrei vortragen.
Die Geschichte, die Volker Surmann für Robert Rescue geschrieben hat, hat als Leitmotiv den Satz: „Ein Telefon klingelt“. Die Eingeweihten klopfen sich schon beim ersten Satz auf die Schenkel. Der Rest bricht erst vor Lachen zusammen, als der bullige kurzgeschorene Rescue beim Vortrag sein ganzes komisches Talent entfaltet und die Dialoge zwischen dem fiktiven Autor, seinem Alter Ego und einem Mann von der Telefongesellschaft immer absurder werden.
Da offenbar nicht alle Wichtel ihre Hausaufgaben gemacht haben, dürfen einige Autoren auch eigene Geschichten vorlesen. Der schwule Hobbyornithologe und selbst ernannte Wedding-Erfinder Hinark Husen verarbeitet seinen missglückten Opernauftritt als Statist bei einer La-Bohème-Aufführung, dann singt Elis, der Gastmusiker des Abends, gefühlvoll zur Gitarre.
Nicht alle Darbietungen sind brillant, doch das überwiegend studentische Publikum reagiert auch dankbar auf Schwabenbashing, Weddinger Kiezverherrlichung und andere Plattheiten. Dank des ausgeschenkten finnischen Glühweins ist die Stimmung bald so ausgelassen, dass es auch egal ist, dass nach der Pause doch noch antike Kleiderbügel und anderer Wichtelschrott auf der Bühne den Besitzer wechseln.
Volker Surmann verkauft am Büchertisch die aktuelle CD der Brauseboys. Sie heißt „Wir sind nur Kurzgeschichtenvorleser“, was durchaus als Programm der fünf Herren zu verstehen ist. Mit großer Kunst haben sie nichts am Hut, sie wollen einfach nur Geschichten aus ihrem Alltag erzählen. Seit vier Jahren lesen sie vor, im Laine Art, das von zwei finnischen Künstlern betrieben wird, auf anderen Lesebühnen, manchmal auch im Altenheim.
„Schreiben ist für uns alle mehr als ein Hobby, aber leben können wir davon auch nicht“, sagt Surmann, der im Nebenberuf Kabarettist ist. Frank Sorge unterrichtet kreatives Schreiben, Heiko Werning ist Redakteur eines Reptilienmagazins und taz-Blogger. Das sechste Mitglied, Niels Heinrichs, ist vor kurzem nach Schwaben gezogen – ausgerechnet. „Er darf trotzdem immer gern zu uns in den Wedding kommen“, sagt Surmann großzügig.
So ganz ernst nehmen die Brauseboys, die sich nach der uralten Herrendusche im Laine Art benannt haben, das mit dem Kiezpatriotismus doch nicht. Als erste und einzige Weddinger Lesebühne haben sie ihre Nische in der dicht bevölkerten Leseszene gefunden – zu den wöchentlichen Lesungen kommt auch älteres Kiezpublikum, das sich in den Alltagsgeschichten aus dem bodenständigen Arbeiterkiez im Norden wiederfindet. Gut, dass die nicht wissen, dass zwei der Vorleser in Wirklichkeit in Friedrichshain und Mitte wohnen. Auch da gibt es Schwaben, Opern und anderes, das man vorlesen kann. Und der Glühwein kommt ja sowieso aus Finnland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen