AM UFER: Zukunft war jung
Früher haben wir anders Bier getrunken. Die Flasche lag anders in der Hand, und es hat anders geschmeckt. Verheißungsvoller. Wir haben auch klügere Dinge beim Biertrinken gesagt und noch viel klügere Dinge gedacht. Aber früher habe ich der kugelrunden Laterne an der Oberbaumbrücke auch noch geglaubt, dass sie ein roter Mond ist. Und dass etwas kommen wird. Irgendetwas Unbestimmtes, von dem eines aber sicher war: großartig würde es sein.
Sätze wie „Ist bestimmt wegen der Krise“ haben uns damals noch nicht gelangweilt, und Touristen haben nicht automatisch den riesigen Mercedes-Stern auf dem Hochhaus im Bild gehabt, wenn sie hier am Spreeufer standen und den Sonnenuntergang fotografierten.
Vor allem aber gab es diesen Satz, diesen wunderschönen Satz, wirksam, schlagkräftig, überzeugend. „Im Zweifel“, haben wir der Zukunftsangst entgegengeschleudert, wenn sie ihre hässlichen Klauen doch nach uns ausstreckte: „Im Zweifel werden wir Rockstars.“ Dann ein Schluck Bier. Erhobenen Hauptes.
Ich gucke in die Spree, spüle den Schluck Bier im Mund hin und her, versuche, den heutigen Geschmack zu ergründen. Der Schlagzeuger meiner Band, mit der wir kein Geld verdienen, zupft Gras aus dem Boden. Vielleicht sollten wir Straßenmusik machen, sage ich. Er nickt unbeteiligt, und dann er steht auf, um Bier zu holen. Mit zwei Flaschen kommt er wieder: „Acht Euro achtzig“, sagt er und lacht hysterisch. Hinter uns spielt einer „Under the bridge“.
Wir gucken in die Spree, während wir an unserem 4-Euro-vierzig-Bier nippen. Über uns kreist der Mercedes-Stern. Am Ufer gegenüber leuchtet die Laterne. Sie versucht, ein Mond zu sein. Aber es gelingt ihr nicht. Sie ist eben nur eine Laterne. Und keiner von uns denkt: „Im Zweifel werden wir Rockstars.“
JUDITH POPPE
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