: „Es gibt eine Entwicklung zum Armutslohn“
Dieter Pienkny, Sprecher des DGB Berlin-Brandenburg, sieht im Rückgang der Arbeitslosigkeit keinen Durchbruch für den Arbeitsmarkt. Zu viele „prekäre“ und zu wenig qualitative Beschäftigungsverhältnisse steckten in den Zahlen
taz: Herr Pienkny, die Zahl der Arbeitslosen in Berlin ist im Monat Dezember 2006 leicht zurückgegangen, im Vergleich zum Vorjahresmonat verringerte sie sich aber um über 28.300. Ist das ein echter Trend, wie die Agentur für Arbeit glaubt?
Dieter Pienkny: Ich möchte davor warnen, diesen Silberstreifen am Horizont zu überinterpretieren. Viele der neu geschaffenen Jobs sind im Bereich der prekären Beschäftigung angesiedelt. Wir müssen nicht nur auf Zahlen, sondern auch auf die Qualität der Arbeit achten.
Aber rund 16.000 Personen mehr in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen als 2005 sind doch ein Zeichen für eine positive Arbeitsmarktentwicklung.
Es steht außer Frage, dass der eine oder andere sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplatz dabei ist. Das ist positiv zu bewerten. Es bedeutet aber aus unserer Sicht nicht mehr als ein so genanntes zartes Pflänzchen. Der Jobboom ist in der Region damit noch nicht ausgebrochen.
Die Arbeitsagentur, viele Unternehmen, Wirtschaftsforschungsinstitute und die Politik interpretieren dieses Pflänzchen anders. Sie sagen, der wirtschaftliche Aufschwung in bestimmten Branchen ist auf den Arbeitsmarkt übergesprungen.
Wenn diese sich den entstandenen Arbeitsmarkt genau betrachten würden, würde sich diese Aussage ein ganzes Stück weit relativieren. Wir wissen, dass in der Region 18.000 Arbeitsplätze im Bereich der Leiharbeit entstanden sind. Wir wissen, dass eine große Zahl Mini-Arbeitsplätze dabei ist und viele 1-Euro-Jobs darunter sind. Hinzu kommt, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hin zum Niedriglohn – ich sage „Armutslohn“ – geht, von dem man allein nicht leben kann.
Berlin und die Region sind also Hauptstadt der „prekären“ Beschäftigungsverhältnisse. Was muss aus Sicht des DGB geschehen, damit sich das ändert?
Wir befürchten, dass der Arbeitsmarkt in einen Zangengriff gerät: höhere Abgaben und Steuern – wie die gestiegene Mehrwertsteuer, höhere Versicherungsbeiträge oder der Wegfall der Pendlerpauschale – drücken massiv auf die Binnenkonjunktur und werden Beschäftigungseffekte verhindern. Institute prognostizieren, dass dies zu bundesweit 200.000 Arbeitsplätzen weniger führen kann. Zugleich ist in der Region zu beobachten gewesen, dass die Arbeitsagenturen massiv die Weiterbildung gedrosselt haben. Vor gut einem Jahr hatten wir gut 45.000 Weiterbildungsmaßnahmen in der Region, jetzt sind es noch 15.000.
Welche Folgen hat das auf dem Arbeitsmarkt?
Mit Fortbildung sowie Qualifizierung gelingt der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt. Diese Einspartendenzen müssen gestoppt werden, weil sie auch und besonders Langzeitarbeitslosen und gering Qualifizierten helfen. Schließlich muss die öffentlich geförderte Beschäftigung wieder ausgebaut werden. Das wäre aktive und gezielte Arbeitsförderung, die zudem Perspektiven für den Vollarbeitszeitsektor eröffnet.
Was kann künftig die Berliner Wirtschafts- beziehungsweise Arbeitspolitik tun, um den ersten Arbeitsmarkt auszubauen?
Das Thema Bildung und Fortbildung habe ich schon angesprochen. Zugleich brauchen wir eine Industriepolitik, die auf Bestandspflege setzt …
… das klingt nicht gerade innovativ.
Ist es aber. Wir haben Industriechampions in Berlin, die sehr gut entwickelt sind. Die benötigen eine offensive Industriepolitik. Der Wirtschaftssenator sieht das ähnlich. Außerdem meinen wir, dass der Technologietransfer zwischen Wissenschaft sowie der Wirtschaft und den Betrieben verbessert werden muss. Das schafft mehr qualifizierte Arbeitsplätze. INTERVIEW: ROLF LAUTENSCHLÄGER
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