piwik no script img

Der verhexte Völkerball

Lagerfeuergeschichten: Im Schrank lauert die Angst, die glüht und vibriert und brummt

Das Leder des Balls roch nach altem Schweiß, nach Martins Schweiß

Martin Brühl aus der 3b hasste vieles an der Schule: die Deutschdiktate bei Frau Wurm, die Bastelstunde mit Frau Harms, die Ökokäsestullen, die seine Mutter ihm als Pausenbrot mitgab. Am leidenschaftlichsten, unerbittlichsten, hoffnungslosesten aber hasste er die Sportstunde am Dienstagmittag. Denn da wurde Völkerball gespielt. Und wenn es einen Jungen gab, der auf keinen Fall, der im Leben nicht „König“ beim Völkerball werden würde, so hieß er Martin Brühl. Stets wurde er als erster getroffen und ins Außenfeld verbannt, nie schaffte er es, einen Gegenzuspieler abzuklatschen.

Es gab nur einen Weg, um den Demütigungen der Völkerballstunde zu entkommen. Er musste schwänzen. Martin hatte noch nie geschwänzt: Er war ein sehr pflichtbewusster Junge. Aber sich aus Prinzip zum Idioten machen? Den ganzen Dienstagvormittag grübelte er darüber nach, und nicht mal in Mathe passte er auf, obwohl das sein Lieblingsfach war. Als Frau Harms, die in der zweiten großen Pause die Aufsicht hatte, von einer Rauferei abgelenkt war, schlich Martin in den Klassenraum zurück, raffte seine Sachen und quetschte sich in den Materialschrank. Es war gar nicht einfach, die schwere Schiebetür von innen zu schließen, so krumm, wie Martin stand. Endlich rastete der Verschluss mit einem schmatzenden Geräusch ein. Keine Sekunde zu spät, denn jetzt läutete es zur fünften Stunde: Sport mit Frau Wurm. Martin hörte das Gejohle seiner Klassenkameraden, die kamen, um Turnzeug und Tornister zu holen.

Bald wurde es still im Klassenzimmer. Er zählte bis hundert. Hundertfünfzig. Erst dann war Martin sicher, allein zu sein. Er zog an der Schiebetür. Sie rührte sich nicht. Er zog noch einmal. Die Tür hing fest wie zugeschweißt. Er versuchte es mit beiden Händen, mit aller Kraft, aber die Tür bewegte sich keinen Millimeter. „Keine Panik“, flüsterte er sich zu, aber das beruhigte ihn kein bisschen. Zum Glück war an der Unterseite der Tür ein schmales Luftgitter angebracht. Ersticken müsste er also nicht, und durch die winzigen Löcher fiel etwas Licht in den Schrank. Martin fasste wieder Mut. Seine Augen hatten sich mittlerweile so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er einige Gegenstände im Schrank erkannte: den Schrubber, den Putzeimer, den Kartenständer, die langen Kartenrollen – und etwas Rundes, das bestimmt nicht in diesen Schrank gehörte. Ein Ball. Nicht irgendeiner – das Leder roch nach altem Schweiß, seinem Schweiß. Martin war todsicher, dass dies der Völkerball war, mit dem die Kinder der 3b sich jetzt eigentlich abklatschen sollten. Er hielt den Atem an.

„Was hast du dir nur dabei gedacht, Brühl?“, donnerte eine Stimme. Aber es war nicht die von Frau Wurm. Martin riss die Augen auf. Das runde Ding in der Ecke schimmerte grünlich wie das Spielzeuggerippe, das zu Hause auf seinem Schreibtisch stand. „Ich rede mit dir, Brühl, du Taugenichts!“, brüllte die Stimme, und jetzt erkannte Martin, dass der Ball nicht überall glühte. Er hatte zwei dunkle Flecken, die wirkten wie Augen, ein Loch in der Mitte wie der Stumpf einer Nase, und unten klaffte ein Raubtiergrinsen. Martins Mutter hatte im letzten Herbst solch ein Gesicht in einen Kürbis geschnitten, aber damals fand Martin, dass nicht mal Babys sich vor so was fürchten würden. Er änderte seine Meinung in Sekundenbruchteilen. „Wie wär’s mit einer Antwort, du Bengel?“, blaffte der verhexte Völkerball. „I-ich hab mir ni-nichts g-gedacht“, sagte Martin und fing an zu weinen.

Aus dem feixenden Maul des Balls zischte giftiggrüner Dampf. Die Kugel vibrierte und brummte. Plötzlich flog sie los und klatschte gegen Martins Oberarm. Er schrie auf vor Schmerz. „Du Feigling!“, grölte der Ball, schepperte gegen die Metalltür und prallte zurück gegen Martins Brust. Der Junge wollte um Hilfe schreien, konnte aber nur röcheln. „Du Versager!“, dröhnte das grüne Ding und hämmerte gegen Martins Oberschenkel. Er fiel auf die Knie. Vom oberen Regal prasselte ein Regen bunter Kreidestücke auf seinen Kopf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Aber hinter dieser Dunkelheit lauerte ein grünes Glimmen. Es hing dort wie Nebel über einem Sumpf. Es wartete nur darauf, Martin zu verschlingen.

Als Herr Spreng, der Hausmeister, am Nachmittag das Klassenzimmer der 3b betrat, um aufzuräumen, wurde er rot vor Wut: Die verflixten Gören hatten den Materialschrank umgeworfen und dabei die Schiebetür aus den Führungsschienen gerissen. Dann sah Herr Spreng einen Jungen im Schrank, der wimmerte, blind vor sich hin starrte und erbärmlich nach Urin stank. In die rechte Armbeuge hatte der Junge seinen Schulranzen geklemmt. Als der Hausmeister ihm heraushelfen und den Tornister abnehmen wollte, quiekte Martin wie in Todesangst und presste die Tasche noch enger an sich. Und dann schrie er mit aller Kraft: „Ich bin kein Geist!“ Das waren die einzigen verständlichen Worte, die man je wieder von ihm hörte.

KAY SOKOLOWSKY

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen