: Was ein Stück ist
EUROPÄISCHE DRAMATIK Zum letzten Mal feierte das Hessische Staatstheater Wiesbaden sein fulminantes Festival „Neue Stücke aus Europa“
VON SHIRIN SOJITRAWALLA
Er möge bitte damit aufhören. Sofort. Keinen Augenblick länger ist es zu ertragen, ihm dabei zuzusehen, wie er seine Anverwandlung auf die Spitze treibt, in Breivik hineinschlüpft wie in eine Rolle, wobei es eher ein sich Hineinquälen als ein Hineinschlüpfen ist. Schlussendlich richtet dieser Mensch auf der kleinen Studiobühne sein Gewehr auf uns, und wir halten die Luft an, bis uns das Theaterschwarz erlöst. Ausatmen. So endet ein Abend, der sich dem Leben und Machwerk Anders Behring Breiviks verschrieben hat. Der richtete im Juli 2011 in der norwegischen Hauptstadt Oslo und auf der Insel Utøya bekanntlich ein Blutbad an, bei dem mehr als 77 Menschen ihr Leben lassen mussten. Der dänische Autor und Regisseur Christian Lollike entwickelte gemeinsam mit seinem Darsteller Olaf Højgaard ein Stück dazu, das so heißt wie das Manifest, das Breiviks antieuropäisches und islamophobes Denken offenbart: ein brillant brisant collagiertes Stück, das unterschiedliche Textsorten vereint: Breiviks Manifest mit seinen Tagebuchsätzen, Aussagen vor Gericht mit Lexikoneinträgen.
Es ist nicht der erste Versuch, sich der Tragödie theatralisch zu widmen. 2012 ließ etwa Milo Rau in Weimar Breiviks Verteidigungsrede von einer Schauspielerin lesen, 2013 schrieb der schottische Dramatiker David Greig ein Stück über das Böse für zwei Darsteller und einen Laienchor. „Manifest 2083“, uraufgeführt im Oktober 2012 am Kopenhagener Theater S/H, indes zeugt auch von der persönlichen Auseinandersetzung des Schauspielers Olaf Højgaard, der wissen wollte, wie Breivik tickt. Seine extrem gründliche, in Breivik und sein Denken hineinspähende Recherche mündet immer wieder in eine kritische Selbstbefragung, die uns alle befragt. Im Laufe des Abends eignet er sich Breivik an wie eine zu spielende Figur, im Normalfall Theateralltag für einen Schauspieler. Hier wird es zum Ausnahmezustand.
In einer gespenstischen Szene sitzt Olaf Højgaard an einem kleinen Spiegeltisch und macht sich zurecht. Eine hinter dem Spiegel befestigte Kamera überträgt sein Gesicht auf die Leinwand im Hintergrund der Bühne. Dort wird aus dem dänischen Schauspieler der norwegische Massenmörder: Zuerst benässt er sich das wellige Haar mit Wasser, bis es eng am Kopf anliegt, dann stopft er sich sonst was in den Mund, um die hageren Gesichtszüge auszustopfen, und schließlich malt er sich noch einen rötlichen Backenbart ums Gesicht. Gefilmt sieht er jetzt aus wie er. In echt bleibt er ein als Breivik verkleideter Schauspieler. Das hat auch was von Gruselshow, wie der Abend überhaupt auf dem verdammt schmalen Grat zwischen Aufklärung und Geschmacklosigkeit balanciert. Dabei gelingt ihm das Kunststück, Breivik zu entdämonisieren, ohne ihn kleinzureden.
Paten aus 41 Ländern
Auf der diesjährigen Wiesbadener Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ gehörte „Manifest 2083“ zu den Höhepunkten eines insgesamt gesehen starken Jahrgangs. Dabei stand die Frage, was ein Stück ist oder ausmacht von Anbeginn auf der To-talk-about-Liste dieses ausgewiesenen Autoren-Festivals. Der Stückbegriff hat sich dabei in den Jahren seines Bestehens erfreulich geweitet, was immer auch am Programm des ursprünglich 1992 in Bonn gegründeten Festivals abzulesen war. Für jede Ausgabe schlugen so genannte Paten, Autoren aus mittlerweile 41 europäischen Ländern, Stücke vor; die künstlerische Leitung der Theaterbiennale, bestehend aus den Festivalgründern Manfred Beilharz, Tankred Dorst und Ursula Ehler, in diesem Jahr verstärkt von Ann-Marie Arioli und Peter Michalzik, schaute und entschied. Ein einzigartiges System, das 22 Jahre lang gute Dienste tat. In diesem Jahr trug das Festival zudem den kämpferischen Untertitel „Rebellisches Theater“. Ein überflüssiger Zusatz, der sich mehr auf die Proteste auf den Straßen, etwa in der Türkei oder in der Ukraine, bezog als auf das Theater selbst.
Die Ukraine war in diesem Jahr gar nicht erst dabei, dafür aber die Türkei, die mit „Die Spur“ keinen herausragenden, aber aufschlussreichen Theaterabend vorlegte. Ahmet Sami Özbudak erzählt darin die Geschichte dreier Generationen zwischen Röhrenradio und Smartphone. Sie nehmen am selben Wohnzimmertisch Platz, im Leben zu unterschiedlichen Zeiten, im Theater gleichzeitig: Zwei griechisch-türkische Schwestern erleben dort die Pogrome im Jahr 1955, in den 80er Jahren taucht ein Kommunist in der Wohnung unter, und um die Jahrtausendwende bewohnen ein Transvestit und sein Liebhaber die Räume, wobei das Stück das Private hemmungslos mit dem Politischen verschränkt.
Hoffnungslos privat gebiert sich indessen diesmal Joël Pommerat. Der französische Regisseur und Autor gehört zu den Entdeckungen, derer sich die Theaterbiennale rühmen darf: Yasmina Reza, Biljana Srbljanović, Alvis Hermanis und andere wurden hier gezeigt, bevor sie dann alle entdeckten. Joël Pommerat präsentierte zum Auftakt des diesjährigen Festivals einen Abend mit dem versponnenen Titel „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“, und wie bei ihm üblich, lässt er den Theaterraum dabei ziemlich dunkel, die Musik beachtlich laut und das Licht hübsch tanzen; so ist es seine Art. Dazu serviert er kurze Szenen, Episoden, die sich um die Liebe drehen und einen skurrilen Reigen aufführen. In Ton und Machart erinnert das an Yasmina Rezas neuestes Buch „Glücklich die Glücklichen“. Wer bei der Lektüre ihrer Geschichten auf seine Kosten kam, wird es auch an diesem Abend, an dem nicht weniger auf dem Spiel steht als die Verfasstheit der Menschen. Im nächsten Jahr kommt die deutsche Erstaufführung des Stückes heraus, Oliver Reese wird sie am Schauspiel Frankfurt inszenieren.
Die Zukunft der Theaterbiennale steht in den Sternen. Mit dem Ende der Spielzeit verabschiedet sich Manfred Beilharz als Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden. Sein Nachfolger Uwe Eric Laufenberg zeigt kein Interesse, das Konzept zu übernehmen. Schade, denn wo sonst öffnet sich hierzulande ein solches Panorama europäischer Gegenwartsdramatik?
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