: Modell Karibik
ÉDOUARD GLISSANT Der Schriftsteller und Historiker ist tot. Er propagierte Vermischung und ein neues Denken von Paris und New York aus
Wer heute von Hybridität und hybriden Kulturen spricht, denkt kaum an Édouard Glissant. Dabei war der Schriftsteller aus der Karibik einer der größten Propagandisten der Vermischung. Die Gesellschaften der Karibik, wo Schwarze, Inder, Araber und Weiße zusammenleben, sah er als Labor der Moderne, weit entfernt von Dominanz- oder Leitkultur. „Die Welt kreolisiert sich“, sagte er im taz-Interview. „Diese Kreolisierung ist nicht einfache Rassenmischung. Sie schafft absolut Neues, das unerhört und unerwartet ist.“
Édourad Glissant starb am Donerstag mit 82 Jahren in Paris. Dort studierte der in der ehemaligen französischen Kolonie Martinique Geborene Literatur, Ethnologie, Philosophie und Geschichte. Während seiner Studentenzeit war er Sprecher des Kongresses Schwarzer Schriftsteller und Künstler. 1965 kehrte Glissant nach Martinique zurück und gründete ein kulturelles Forschungszentrum. Später unterrichtete er an der City University in New York.
Er war ein Weltenbürger, der seine antillischen Wurzeln immer betonte. Glissant schrieb Romane, Reiseberichte und Essays, die in ihrer wolkigen und nicht immer leicht verständlichen Sprache so eigenwillig wie sein Denken waren. Neun seiner Bücher wie „Kultur und Identität“ oder der Roman „Zersplitterte Welten“ sind im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn erschienen. Glissant war seit 1993 Ehrenpräsident des Internationalen Schriftstellerparlaments.
Glissant grenzte stets das europäische Denken von seinem archipelischen Denken ab. „Der Rationalismus, der Empirismus, der Sozialismus, der Marxismus. Sie versuchen ein stabiles Fundament für die menschlichen Bedingungen zu liefern. Aber wir wissen, dass sie nur zum Teil recht haben. Das archipelische Denken ist fragil. Es ist nicht systemhaft. Es ist sich nicht sicher. Es passt sich viel schneller der dauernden Veränderung der Welt an. Und es ist effizienter in unserer aktuellen Situation“, sagte er im taz-Interview.
Édouard Glissant war ein Optimist, was ihm den Vorwurf der Naivität einbrachte. „Ja, es gibt immer noch die Dominanz, es gibt Vorurteile, es gibt Rassismus, es gibt Unterdrückung. Doch sie liegen in Agonie. Und sie werden bald der Vergangenheit angehören“, behauptete er. Sein Denken war freundlich, warm, voller Überraschungen, wie ein Sonnentag in der Karibik. EDITH KRESTA
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