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DAS MUTTERLAND DES KONJUNKTIVS

VON RALF SOTSCHECK

Die Fußballwelt starrt auf Brasilien, England starrt auf den Konjunktiv: Hätte Luis Suárez schon am ersten Gruppenspieltag einen Gegenspieler gebissen, wäre er gegen England gesperrt gewesen und hätte nicht die beiden Siegtore erzielt. Dann wäre England anstelle von Uruguay weitergekommen und auf Kolumbien im Achtelfinale getroffen – das wäre eine lösbare Aufgabe gewesen. So hätte man das Viertelfinale gegen Brasilien erreicht. Wäre Neymar dann gleich zu Beginn verletzt ausgeschieden, würde England jetzt im Halbfinale gegen Deutschland stehen – und wie üblich im Elfmeterschießen ehrenvoll ausscheiden.

Im Grunde hat das Mutterland des Fußballs aber den gnädigen Schleier des Vergessens über das blamable Aus seines Teams in der Vorrunde gebreitet und sich wichtigeren Dingen zugewandt. Neuerdings ist man ja auch das Mutterland des Radsports, nachdem die Engländer Bradley Wiggins und Christopher Froome die Tour de France in den vergangenen beiden Jahren gewonnen haben. So erscheint es nur logisch, dass die 101. Tour am Samstag im nordenglischen Leeds startete. Nach der dritten Etappe zieht der Tross zwar weiter nach Frankreich, aber das wird man den Organisatoren auch noch abgewöhnen und die gesamte Tour ins Mutterland holen.

Eine Bergetappe hätte man auch zu bieten: Ben Nevis ist mit 1.344 Metern der höchste Berg Großbritanniens. Einziger Nachteil ist, dass er in Schottland liegt. Wenn die Schotten jetzt bloß keinen Blödsinn machen und im September für die Unabhängigkeit stimmen!

England ist auch das Mutterland des Motorsports. Das erste Formel-1-Rennen der Geschichte fand 1950 im englischen Silverstone statt, und gestern wurde dort der neunte WM-Lauf ausgetragen. Mutterland des Tennis ist England sowieso. Gestern gab es die Endspiele in Wimbledon. Eine Verlegung des Tennis-Turniers wegen Fußball-Weltmeisterschaften ist den Organisatoren noch nie in den Sinn gekommen. Schließlich finden die Tennismeisterschaften bereits seit 1877 statt, die erste Fußball-Weltmeisterschaft gab es aber erst 1930. So müsse sich die Fifa gefälligst nach Wimbledon richten, wenn sie eine Terminkollision vermeiden wolle. Eigene Schuld, wenn der Fifa nun Zuschauer abhandengekommen sind. Das meint offenbar auch der schlichte Ex-Fußballer David Beckham, der vorige Woche auf dem Centre Court weilte, statt sich die Kollegen in Brasilien im Fernsehen anzuschauen.

Wer braucht bei diesem Überangebot noch Fußball, zumal nicht England das Mutterland dieser Sportart ist, sondern China. Dort wurde im zweiten Jahrtausend vor Christus bereits „Ts’uh-chüh“ (Fußball) gespielt. Und Chinas Fußballer haben es gar nicht zur WM geschafft. So hat man den englischen Spielern vergeben. Roy Hodgson darf bis zu den Europameisterschaften in zwei Jahren Trainer bleiben. Er soll die jungen Spieler zu einer schlagkräftigen Mannschaft formen. Dann könnte es mit dem Titel klappen. Die Erwartungen sind hoch. Zur Not gäbe es ja noch den Konjunktiv.

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