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Der blauäugige Kyrill

Der Orkan über Norddeutschland richtete keine größeren Schäden an. Der heftigste Sturm seit 1999 war er dennoch. Der Bahnverkehr war am stärksten betroffen, die schwere Sturmflut aber blieb aus

„Wir mussten uns dem Wetter beugen“ – „Es hätte uns aber noch viel schlimmer treffen können“

Von Sven-Michael Veit

„Kyrill“ verteilte massenweise blaue Augen. Mit nämlichen „davongekommen“ zu sein, stellten gestern Viele fest: Hans Janssen, Bürgermeister der ostfriesischen Insel Langeoog; Thorsten Grams, Sprecher der Hamburger Feuerwehr; die Polizeisprecher von der Insel Sylt und aus Lüneburg – alle zeigten sich durchaus erleichtert über den Verlauf der Nacht zu gestern. Der Orkan Kyrill hatte früher und stärker als vorhergesagt an Kraft verloren, ab etwa zwei Uhr am Freitag löste sich fast überall in Norddeutschland die Alarmstimmung auf. Bei Hildesheim kam ein Autofahrer ums Leben, mindestens zwölf Menschen erlitten Verletzungen.

Am schlimmsten betroffen war der Zugverkehr südlich von Hamburg, der seit dem Nachmittag fast flächendeckend eingestellt worden war. Umgestürzte Bäume auf Gleisen und beschädigte Stromleitungen waren der Grund dafür. In den Hauptbahnhöfen der größten Städte mussten hunderte Fahrgäste die ganze Nacht ausharren, die kein Hotelzimmer mehr bekommen hatten. Von der Deutschen Bahn gab es dafür Gutscheine in Höhe von 80 Euro.

In Hamburg saßen gut 200 Reisende fest. Sie konnten in einem ICE übernachten und wurden von der Deutschen Bahn verpflegt. In einem Luftschutzbunker unter dem Hauptbahnhof von Hannover verbrachten etwa 300 Menschen die Nacht, in Bremen wurden 186 Menschen vom Roten Kreuz im AWD-Dome in Bahnhofsnähe verpflegt. „Wir mussten uns dem Wetter beugen“, sagte Bahnsprecherin Sabine Brunkhorst. Erst im Verlauf des gestrigen Tages normalisierte sich der Bahnverkehr langsam wieder.

Die höchsten Windgeschwindigkeiten wurden bereits am frühen Donnerstagabend registriert. 148 Stundenkilometer auf der nordfriesischen Insel Nordstrand und 122 km/h auf Borkum in Ostfriesland. Am stärksten allerdings wurden die niedersächsischen Mittelgebirge und vor allem der Harz vom Winde verweht: Auf dem 1.142 Meter hohen Brocken wurde der Rekordwert von 192 km/h gemessen. Damit war Kyrill der heftigste Orkan seit „Lothar“ im Jahr 1999: Der blies mit bis zu 215 Stundenkilometern.

Die Hochlagen des Harzes waren teilweise bis gestern Mittag von der Außenwelt abgeschnitten. Hier wie in vielen Waldgebieten Niedersachsens hatte der Orkan unzählige Bäume entwurzelt. Viele Bäche und Flüsse traten nach den heftigen Regenfällen in dem Mittelgebirge über die Ufer, etliche Keller liefen voll. „Es hätte uns aber viel schlimmer treffen können“, sagte ein Polizeisprecher in der Bergwerksstadt Goslar.

An den Nordseeküsten richtete der Orkan ebenfalls keine dramatischen Schäden an. Auch die befürchtete „sehr schwere Sturmflut“ blieb aus, weil der Wind bereits abflaute, als das Hochwasser auflief. So blieb es bei einer „einfachen Sturmflut“ von 1,50 Metern über dem Mittleren Hochwasser in Hamburg, an der nordfriesischen Insel Föhr kam das Wasser „nicht ganz bis an die Kante“, wie Bürgermeister Jürgen Schmidt berichtete.

Vollkommen ausgestanden ist die Wetterlage vor allem an der Ostsee allerdings nicht. Der Sturm aus Südwest und West hat das Wasser in Richtung Nordosten nach Skandinavien und ins Baltikum gedrückt – und das schwappt nun zurück. An den Stränden und in den Hafenstädten an der Ostseeküste wurde für gestern Abend mit einer Flutwelle von mehr als einem Meter Höhe gerechnet.

Und außerdem ist „Lancelot“ bereits im Anmarsch. Das Tief soll heute mit viel Regen und stürmischen Winden der Stärke acht von der Nordsee kommend über Schleswig-Holstein hinwegziehen.

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