Eine Flucht aus Raum und Zeit

Der Roman „Kamtschatka“ von Marcelo Figueras betrachtet aus der Perspektive eines Zehnjährigen die letzte argentinische Diktatur

Der Film „Kamtschatka“ von Marcelo Piñeyro war 2002 in Argentinien ein großer Erfolg. Bei der anschließenden Berlinale in Deutschland errang er einen Publikumspreis, und in den USA war er in der Kategorie bester ausländischer Film für den Oskar nominiert. Nun ist die Romanvorlage des argentinischen Autors Marcelo Figueras auch in deutscher Übersetzung erschienen.

„Kamtschatka“ ist die Geschichte des zehnjährigen Harry, der zusammen mit seinem jüngeren Bruder – genannt: der Zwerg – und den Eltern 1976 untertauchen muss. Die argentinische Militärjunta hat das Land mit ihrem Terror überzogen. Harrys Vater ist Anwalt und entgeht nur durch Zufall der Verschleppung, seine Mutter wird von der Universität geschmissen und verliert ihre Arbeit im Labor. Harry und der „Zwerg“ sind plötzlich und ohne Vorwarnung aus ihrem Alltag in Buenos Aires gerissen. Sie konnten sich nicht von den Schulfreunden verabschieden und auch nicht den Lieblings-Goofy einpacken.

Die Kinder sind von den unerwarteten Abenteuerferien auf dem Land wenig begeistert. Dennoch beginnen sie sich spielerisch an die neue klandestine Identität zu gewöhnen – eigensinnig und anpassungsfähig, wie sie sind. Die Liebe der Eltern muss ihnen dabei über die vielen erlittenen Verluste hinweghelfen – und kann es nicht ganz. „Das Leben ist ungerecht, aber es hat seine Momente.“ Figueras spricht aus der Perspektive des Zehnjährigen. Humorvoll und sensibel lässt er den Blick auf Ereignisse schweifen, die auch im zeitlichen Abstand von zwanzig, dreißig Jahren nur schwer literarisch zu bewältigen sind. Dabei verniedlicht er das historische Geschehen keineswegs. Geschickt verwebt er kindlichen Alltag und Zeithistorie. Für Kinder wie Harry und den „Zwerg“ passt die Welt, wie der Autor an einer Stelle erwähnt, in eine Nussschale. Gerät diese kindliche Illusion, in diesem Fall aufgrund der politischen Vorgänge, durcheinander, muss sie bei nächster Gelegenheit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln neu errichtet und verteidigt werden.

„Der Zwerg wartete in dem Citroen auf uns. Er saß auf seinem Platz, den Pony bis zu den Augenbrauen, bekleidet mit der karierten Schürze der Vorschulkinder. Er verzog keine Miene, als wir in das Auto stiegen, so als wären wir noch gar nicht da, oder als würde er in einer anderen Zeit leben, die nah an unserer war, aber nicht mit ihr identisch. Ich wollte ihn nicht stören. Er war in sich versunken. Zwei Sekunden später brachte er mit seiner Frühstückstüte fast meinen Kopf zum Platzen.“ Figueras hat die Reaktionsweisen von Kindern genau studiert.

Doch auch den Erwachsenen kann kindliches Verhalten als Schutz und Abgrenzung dienen. Verbissen spielen Vater und Sohn TEG (Tácticas y Estrategias de Guerra), die argentinische Variante des Risiko-Spiels. TEG kam ironischerweise etwa zeitgleich mit der Machtübernahme der Militärs 1976 auf den argentinischen Markt. Der (wie die Mutter sehr liebevolle und sorgsame) Vater kann den zehnjährigen Sohn bei diesem Welteroberungsspiel niemals gewinnen lassen. Kamtschatka, jene 1.200 Kilometer lange russische Halbinsel, ist im Spiel wie in der Wirklichkeit im Zweifelsfall die letzte Rückzugs- und Verteidigungslinie. Niemals kann er sie aufgeben. Ein mythisches sibirisches Kamtschatka – und keineswegs das real existierende argentinische Patagonien: Symbolisch liegt der Fluchtpunkt für ArgentinierInnen in jenen Jahren außerhalb von Raum und Zeit und jeder Wirklichkeit.

Im letzten Drittel des Romans scheint die erzählerische Leichtigkeit Figueras’ vorübergehend etwas nachzulassen. Der Autor tastet immer weiter und – so scheint es – sträubt sich doch gegen einen Handlungsverlauf, der zumindest in der großen Geschichte kaum ein Happy End kannte. Im argentinischen Kontext wird an solchen Stellen gern die sprichwörtliche Melancholie bemüht, mich beschlich trotz des offenen Endes eine tiefe Traurigkeit, die noch Tage nach der Lektüre anhielt.

„Kamtschatka“ kann als ein Roman gelten, der auf gelungene Weise universell die Denk- und Ausdrucksweisen von Kindern in den Mittelpunkt rückt. Diese sind – trotz ihrer sehr unterschiedlichen Lebenssituationen – auf der ganzen Welt ähnlicher, als man oft glaubt. ANDREAS FANIZADEH

Marcelo Figueras: „Kamtschatka“. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Nagel & Kimche, Zürich/München 2006, 317 Seiten, 19,90 Euro