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Der Westen setzt stets auf das kleinere Übel

■ In Rußland zählen Stabilität und Berechenbarkeit. Menschenrechte sind demgegenüber zweitrangig. Daran ändert auch ein neuer Präsidenten nichts

Jetzt, vier Monate vor den Präsidentenwahlen, hat der Westen in Rußland schlechte Karten. Ein Teil der Russen war schon immer antiwestlich. Der andere Teil ist über die politische Entwicklung zunehmend enttäuscht. Die Mehrheit glaubt, daß der Westen und seine Helfershelfer an der bedrückenden Misere und Unordnung schuld seien.

Hinter der Abkehr vom Westen, die von dem sich verstärkenden „patriotischen“ Lager gefördert wird, steht das Bewußtsein, wirtschaftlich vom Westen abhängig zu sein. Angesichts dieser Lage könnten die westlichen Industrieländer zurückhaltend sein. Sie haben jedoch an Rußland ein eigenes und teilweise gemeinsames Interesse. Dieses Interesse hat eine öffentliche und eine halböffentliche Seite. Das öffentlich bekundete Interesse ist es, Rußland allmählich zu einem festen Bestandteil der westlichen Wertegemeinschaft zu machen. Demokratie, Menschenrechte und eine unreglementierte Marktwirtschaft gilt es zu fördern.

Ernst genommen wurde dieses westliche Interesse vor allem von prowestlichen demokratischen Tendenzen. Deren Vertreter sind jetzt enttäuscht, resigniert, zynisch oder nationalistisch geworden.

Jelzin hatte in diesem prowestlichen Sinne zunächst eine gute Figur gemacht. Zunehmend aber wurde erkennbar, daß es ihm primär um die persönliche Macht ging. Die Mittel waren egal: Wenn ihm Menschenrechte, Demokratie und Wirtschaftsreform nützten, dann her damit; wenn ihm das Gegenteil nützte, dann her mit dem Gegenteil.

Erst als die Diskrepanz zu groß wurde, begann sich der Westen allmählich von Jelzin zu distanzieren. Georgien hin, Tschetschenien her, Jelzin war und scheint noch immer das kleinere Übel zu sein. Menschenrechte und Demokratie erschienen allenfalls als politische und wirtschaftliche Druckmittel tauglich. Viel wichtiger war dem Westen Stabilität und Berechenbarkeit der russischen Gesellschaft und der russischen Politik. In dieser Hinsicht war Jelzin zu den politischen Desperados und Laienakteuren, die das russische politische Leben in den letzten Jahren bestimmt hatten, allemal die bessere Alternative. Seine Innenpolitik, die ihn zunehmend von den russischen Demokraten entfernte, beunruhigte den Westen nicht unmittelbar. Die Konzentration der Macht beim Präsidenten und seiner Gruppe, förderte zwar nicht gerade demokratische Strukturen, aber vielleicht stellte sie ja das Land ruhig. Für den Westen blieb Jelzin gegenüber den „patriotischen Kräften“ die beruhigendere Alternative. Kurzfristig gesehen war Jelzins Machtakkumulation sogar hilfreich, weil sie die Machtübernahme durch fanatisierte Laien verhinderte. Doch das Land ist noch immer gefährlich instabil. Denn die Konzentration der Macht produziert Chaos auf fast allen Ebenen.

Und Sjuganow und seine jetzt „patriotischen“ ehemaligen Kommunisten? Die ehemaligen demokratischen und lieberalen Oppositionellen sehen in ihnen die Repräsentanten einer verhaßten Vergangenheit. So sieht es in der Regel auch der Westen. Dabei sind sie vielleicht tatsächlich nur, was ihnen Radikale immer schon vorwerfen: glatte Opportunisten. Und das könnte aus einer pragmatischen Perspektive auch beruhigend sein. Erhard Stölting

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