: Die Revolte in Albanien zeitigt auch klassische Formen des Anarchismus
Split (taz) – Seine Augen sind blutunterlaufen, sein ganzer Körper mit blauen Flecken übersät. Der fünfzigjährige Historiker Pellum Saliasi hat nach all den Torturen Glück gehabt. Er hat überlebt. Und er zeigt außergewöhnlichen Mut, er nennt den Namen seines Peinigers: Shik Stermasi, Mitglied der Kriminalpolizei. Doch die Schuld an seinem Schicksal gibt er einem anderen. „Berisha ist ein neuer Pinochet“, sagt er. „Er läßt friedliche Demonstranten verhaften und terrorisiert das Volk.“
Allein seit der Verhängung des Ausnahmezustandes am 3. März hat die Regierung viele Mitglieder der Opposition, unabhängige Journalisten und Studenten verhaften, schlagen und bedrohen lassen, moniert auch das Albanische Helsinki Komitee. In einem Bericht des Komitees werden Dutzende solcher Vorfälle aufgeführt. Die Regierung von Berisha sei zu einer korrupten, repressiven Demokratur verkommen, meinen selbst viele Menschen in Tirana. Manche Aufständische drücken ihren Unmut klarer aus: Berisha muß weg.
Dies ist die Forderung, die der Aufstandsbewegung ihr politisches Ziel gibt. Indem die bewaffneten Massen Polizeistationen und Armeeposten überfallen, sich die Waffen aneignen und befreite Gebiete ausrufen, zerstören sie jedoch nicht nur die Macht des Präsidenten, sondern die Staatsmacht insgesamt. Die albanische Rebellion schafft nicht nur eine Anarchie – wo alles drunter und drüber geht –, sie knüpft in ihren Formen tatsächlich an Traditionen des klassischen Anarchismus an.
In den Städten und Dörfern übt das bewaffnete Volk die Macht aus, Volksversammlungen werden abgehalten, eine Organisation von unten nach oben entsteht. Der Zusammenschluß von Abgesandten mehrerer Volksversammlungen in Gjirokaster folgt diesem Bild. Auch Mitglieder politischer Parteien mischen mit, selbst lokale Politiker der Demokraten, wie in Saranda, jedoch nicht in ihrer Funktion als Parteimitglieder. Und auch in anderer Hinsicht handelt es sich um eine anarchistische Erhebung: Der in den „befreiten Gebieten“ einsetzende Terror gibt den als Sonderpolizisten Verdächtigten kaum eine Chance, zu überleben.
Es mögen sich bald neue Führer herausbilden, die über Autorität verfügen und damit die Revolte in eine ruhigere Phase lenken. Bisher sind dafür erst Ansätze erkennbar. Daß der Volksaufstand jedoch militärisch organisiert wird, zeigt der Umstand an, daß der im Dezember geschaßte General Ibrahim Zenon jetzt Oberkommandierender der Rebellentruppen ist.
Die Rebellen sind dennoch nicht in der Lage, einfach auf „Tirana zu marschieren“. Ihr Beispiel aber ermuntert die Bevölkerung in anderen Städten, den „befreiten Gebieten“ nachzueifern. Der Volksaufstand setzt sich fort, weil die Kräfte, die Berisha stürzen wollen, stark sind. Und weil die Kräfte, die ihn stützen, nicht mehr in der Lage sind, zu einem Gegenangriff überzugehen. Die Armee will nicht auf das Volk schießen, die Sondertruppen des Innenministeriums können nicht einmal die Kontrolle über den Rest des Landes sichern. Erich Rathfelder
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