: Tote in Gaza am „Tag der Erinnerung“
Die Palästinenser gedenken der Flucht und Vertreibung vor fünfzig Jahren. Bei Massendemonstrationen in mehreren Städten kommt es zu schweren Zusammenstößen mit der israelischen Polizei ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen
Mehrere hunderttausend Palästinenser haben gestern der Flucht und Vertreibung vor 50 Jahren gedacht, die mit der Gründung des Staates Israels einherging. Im Gaza-Streifen und in den autonomen Städten des Westjordanlandes zogen sie am „Tag der Erinnerung“ zu Zehntausenden durch die Straßen. Viele trugen schwarze Fahnen der Trauer.
An mehreren Orten kam es dabei zu schweren Zusammenstößen mit israelischen Soldaten. Im Gaza-Streifen wurden nach palästinensischen Angaben drei Palästinenser erschossen, darunter ein achtjähriges Kind und ein 20jähriger Demonstrant. Mehr als 30 Personen seien verletzt worden. Insgesamt sollen bis gestern nachmittag fünf Menschen erschossen worden sein.
Zu heftigen Zusammenstößen kam es auch in Hebron und an Rachels Grab in Bethlehem. Ein palästinensischer Polizist wurde angeschossen, als er Demonstranten daran hindern wollte, zum Siedlungsblock Gush Katif im Süden des Gaza-Streifens zu ziehen.
In Ostjerusalem löste berittene israelische Polizei die palästinensische Demonstration am Tag der nakba, der „großen Katastrophe“, unter Einsatz von Tränengasgranaten und Stahlgeschossen auf, als die Demonstranten die zentrale Salah-Ed-Din-Straße hinunterziehen wollten. Die Palästinenser warfen einen Hagel von Steinen und Flaschen auf die israelischen Polizisten.
Gegen Mittag heulten über den palästinensischen Rundfunk die Sirenen im gesamten Autonomiegebiet. Zwei Minuten lang kam das Leben zum Stillstand. Die Palästinenser gedachten der Leiden der Vergangenheit. Anschließend übertrug der palästinensische Rundfunk eine vorab aufgezeichnete Ansprache von Palästinenserpräsident Jassir Arafat.
In einer bewegenden Rede erinnerte der Präsident daran, wieviel „Blut für Palästina und für die palästinensische Sache vergossen“ wurde und sagte weiter: „Die Besatzer haben das gemacht, was alle Besatzer machen: Sie haben die Existenz des palästinensischen Volkes geleugnet.“ Aber jetzt, so Arafat, sei „ein halbes Jahrhundert der Schmerzen und Leiden, das unsere Nation über die ganze Welt verstreut hat, zu einem Ende gekommen“. Arafat prophezeite die Gründung eines palästinensischen Staates, ohne mit einem Wort auf den stagnierenden Friedensprozeß einzugehen. Er vermied auch direkte Angriffe auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, den er für die Stagnation verantwortlich macht. Zum Schluß beschwor Arafat „das Heiligste des Heiligen, Jerusalem, unsere Hauptstadt, die Hauptstadt unseres zukünftigen Staates“.
Arafat selbst nahm an den Demonstrationen nicht teil. Zum einen konnte er nicht in Jerusalem reden, zum anderen wollte er keiner Stadt im Westjordanland oder im Gaza-Streifen den Vorzug vor einer anderen geben und damit politische Friktionen auslösen.
In Ramallah, dessen Innenstadt für den gesamten Verkehr gesperrt war, trugen jeweils sechs bis acht Personen riesige palästinensische Fahnen. Andere hatten den Schlüssel ihrer früheren Häuser oder Nachbildungen desselben um den Hals gehängt, um ihren Anspruch auf Rückkehr zu untermauern. Plakate wurden hochgehalten, auf denen die Namen der rund 400 palästinensischen Dörfer verzeichnet waren, die im israelischen „Unabhängigkeitskrieg“ dem Erdboden gleichgemacht wurden. Immer wieder skandierte die Menge die Namen der palästinensischen Flüchtlingslager innerhalb wie außerhalb Palästinas.
Generell war die Stimmung unter den Demonstranten eher feierlich als gewalttätig. Schon im Vorfeld der Demonstrationen hatten sich israelische und palästinensische Sicherheitskräfte darauf verständigt, nach Möglichkeit jede Gewalttätigkeit im Keim zu ersticken. Israelis war die Fahrt in die palästinensischen Gebiete verboten. Nicht einmal Mitglieder der israelischen Friedensbewegung konnten an den palästinensischen Feierlichkeiten teilnehmen.
Für Aufregung sorgte am Morgen ein neuerlicher Brandanschlag auf dem Haram al-Sharif, dem Tempelberg in Jerusalem. Nach Angaben des israelischen Rundfunks wurde eines der hölzernen Tore zum drittheiligsten Bezirk der Muslime von Unbekannten in Brand gesetzt. Die Polizei vermutet dahinter jüdische Eiferer, die auf dem Tempelberg beten wollen. Nach dem Mord an einem Jeshiva- Studenten in der Altstadt und einem Palästinenser im ultra-orthodoxen Viertel Mea Shearim ist die Spannung zwischen Israelis und Palästinensern in Jerusalem ohnehin schon auf dem Siedepunkt angelangt.
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