: Vergilbte Fotos neu belichtet
Knapp 200 jüdische Exilanten besuchen derzeit in Berlin die Stätten ihrer Kindheit. Die Konfrontation mit der Gegenwart hilft auch die Angst vor der Erinnerung zu überwinden ■ Von Jeannette Goddar
Sie war zehn, als sie völlig fassungslos am Fenster stand und zusah, wie Männer in braunen Uniformen mit schweren Stiefeln die Scheiben des eleganten Damenmodegeschäfts gegenüber eintraten. „Bis dahin hatte ich eine wunderschöne Kindheit“, sagt sie, „und ich war so naiv. Ich habe nicht einmal an dem Abend verstanden, warum sie mit den Schaufensterpuppen auf die Straße liefen und sie an einer Litfaßsäule zerschellten. Ich stand und guckte und fand alles unglaublich bizarr.“ Was sie damals nicht wußte: Es war „Reichskristallnacht“, und wie viele Geschäfte in der Nähe des Bayerischen Platzes gehörte auch das Modehaus einer jüdischen Familie. Die Erinnerung an die bizarre Nacht ist eine der letzten, die Felice Lafair, die damals Felicitas Meisner hieß, an Berlin hat. Kurz darauf schickten ihre Eltern sie nach Schweden. Von dort emigrierte sie 1947 in die USA. Nicht weil sie nie wieder Deutschland betreten wollte, sondern „weil das Leben dort so glamourös schien. Was sollte ich in Deutschland?“
Nun ist sie doch zurückgekehrt – wenn auch nur für eine Woche. Inzwischen ist Felice Lafair 70, auch wenn ihre langen blonden Haare und ihr strahlendes Lachen das nicht vermuten lassen, und hat ihre elfjährige Enkeltochter an der Hand, weil selbst „ihre Lehrer fanden, daß sie für diese Reise auf ein paar Schultage verzichten kann“.
Die New Yorkerin ist nur eine von knapp 200 jüdischen Exilanten, die seit Dienstag auf Einladung der Senatskanzlei in Berlin sind. Acht Tage lang wandeln sie auf den Spuren ihrer Vergangenheit, besuchen die Häuser ihrer Eltern und Verwandten, die neuen und alten Stätten jüdischen Lebens, Sanssouci, aber auch das Abgeordnetenhaus in einem demokratisch regierten Berlin.
Die meisten derer, die im Roten Rathaus von Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) empfangen wurden, haben Berlin bereits als Kinder verlassen. Nicht wenigen schossen Tränen in die Augen, als der Kinderchor Canzonetta Lieder anstimmte, die sie seit ihrer Schulzeit im „Dritten Reich“ nicht mehr vernommen hatten. Längst haben die Berlin-Besucher ihren Lebensmittelpunkt in fernen Ländern gefunden: in Australien, Kanada, den USA, aber auch in Uruguay, Brasilien oder Südafrika.
Für fast alle ist es der erste Besuch seit ihrer Flucht – für nicht wenige das erste Mal seit 60 Jahren, daß sie wieder Deutsch sprechen. „Eigentlich“, sagt eine Frau, „habe ich mir geschworen, diese Sprache nie wieder zu sprechen. Aber die Zeiten ändern sich schließlich.“ Fast alle erzählen, mit Vorbehalten gekommen zu sein, berichten von Angst, Unsicherheit, aber auch von Haß. Doch schon nach der ersten Stadtrundfahrt scheint das verflogen. „Es ist enorm, was hier geleistet wurde“, sagt Horst Schindler, der sich gleich als Brasilianer vorstellt. Jetzt bereut der 68jährige, nicht früher schon einmal zurückgekehrt zu sein, vielleicht doch eine neue Existenz in Deutschland aufgebaut zu haben. Heute, sagt er, seien seine Kinder und Enkelkinder in São Paulo – und „der größte jüdische Club Südamerikas“.
Dabei erinnert sich auch Schindler noch genau an Details seiner Berliner Kindheit: daß er in Karlhorst „gleich hinter den Schienen“ lebte, an den Vater, der bei „Hermann Tietz“ (Hertie) arbeitete und später, als er als Jude dort herausgeflogen war, sein eigenes Kolonialwarengeschäft eröffnete, an den überstürzten Abschied. „Ich erinnere mich an alles“, sagt er, „aber es ist etwas völlig anderes, es heute noch einmal zu sehen.“
Auch die, die zum Teil seit Jahren die Exil-Berliner bei ihrer Rückkehr begleiten, erleben die Besuche als positiv. „Fast ist es, als ob der Kreis sich schließt“, erzählt Rüdiger Nemitz, einer der Organisatoren, „als könnten viele die Vergangenheit nicht wirklich abschließen, bis sie noch einmal hier sind.“ Daß so viele mit gemischten Gefühlen kämen, glaubt er, läge nämlich nicht nur an einem belasteten Deutschlandbild, sondern auch an der Angst vor sich selber: „Wie werde ich mit meinen Gefühlen und Erinnerungen umgehen?“
Zu der Organisation des zweimal jährlich stattfindenden Besuchs gehört aber auch die Bereitschaft, das Leid der Besucher mitzuerleben: sie dabei zu begleiten, wie sie ihren Angehörigen nachforschen, sie darauf vorzubereiten, daß ihr geliebtes Elternhaus, dessen vergilbtes Foto sie seit Jahren hüten, längst nicht mehr steht und selbst die Straße, in der es stand, einen anderen Namen hat. Eins der wichtigsten Utensilien, das die Betreuer immer bei sich haben, ist eine lange Liste: mit Adressen der Standesämter, die vielleicht noch immer die eigene Geburtsurkunde verwalten, mit der Telefonnummer des Entschädigungamtes und der der Jewish Claims Conference.
Felice Lafair hat die Reise in ihre persönliche Vergangenheit noch vor sich. Noch weiß sie nicht, ob das Haus in der Bamberger Straße, das sie vor 59 Jahren verließ, noch steht. Sie weiß nicht einmal, wann ihre Eltern es verlassen haben. „Bis März 1943 bekam ich regelmäßig Post“, erzählt sie, „dann hörten die Briefe auf.“ Später folgte nur noch der Brief eines befreundeten nichtjüdischen Ehepaares, der offenbar den Zensoren in die Hände gefallen war. Darin stand, daß die damals Vierzehnjährige keine Post mehr bekommen würde. „Den Rest durfte ich mir dann selbst zusammenreimen.“
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