: Die Sucht kommt auf Rezept
Über 80.000 BerlinerInnen sind medikamentenabhängig, so schätzt die Gesundheitsverwaltung. Besonders Frauen sind davon betroffen. Nur wenige Abhängige wenden sich an Beratungsstellen
VON GITTE DIENER
Medikamente sollen heilen. Doch viele Patienten werden erst durch sie krank. Bundesweit sind schätzungsweise 1,1 bis 1,9 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Wie viele es in Berlin sind, ist unklar. Exaktes und aktuelles Zahlenmaterial fehlt. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.
Rund 5 Prozent der oft verschriebenen Medikamente haben nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ein Suchtpotenzial. Am häufigsten sind es Schmerz- und Beruhigungsmittel, über die Patienten in die Abhängigkeit rutschen. Das sei auch in Berlin so, heißt es aus dem Drogenreferat der Senatsverwaltung. Die Zahl der hier Betroffenen kann lediglich geschätzt werden. Man gehe von etwa 80.000 BerlinerInnen aus.
„Die meisten Patienten sind sich ihres Problems nicht bewusst“, sagt Dagmar Heidt-Müller. Sie ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und kritisiert: „Häufig werden Tabletten von Ärzten verschrieben.“ Oft seien niedergelassene Ärzte nicht qualifiziert, das Problem zu erkennen, oder sie wollen es nicht erkennen, so Heidt-Müller.
Dass in Berlin die Zahl der Abhängigen nur grob geschätzt werden kann, liegt allerdings nicht an der ohnehin hohen Dunkelziffer. Das Zahlenmaterial ist bereits acht Jahre alt. Bis zum Ende dieses Jahres erwarte man neue Daten, heißt es bei der Senatsverwaltung für Gesundheit. Die Zahlen, die vorliegen, seien aber auch aus einem anderen Grund mit Vorsicht zu genießen: Sie beruhen auf einer repräsentativen Umfrage von etwa 1.000 BerlinerInnen.
Was sich ablesen lässt: Auch hier sind mehr Frauen abhängig. 50- bis 59-Jährige konsumierten am häufigsten Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel – bei rund 6 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe sei der Gebrauch als problematisch eingestuft worden, erklärt das Drogenreferat. 18- bis 24-Jährige sind oft von Appetitzüglern abhängig.
Warum gerade Frauen prädestiniert erscheinen, von Medikamenten abhängig zu werden, dazu gibt es verschiedene Erklärungsansätze: „Frauen werden mehr Medikamente verschrieben“, sagt Axel Hinzpeter, Suchtmediziner an der Berliner Charité. Das liege vor allem daran, dass sie häufiger Krankheiten wie Migräne hätten, gegen die der Arzt ein Schmerzmittel verordnet.
Für Ismene Grebe liegt das Problem tiefer. „Frauen haben in ihrer Sozialisation andere Konfliktverarbeitungsstrategien entwickelt, sie handeln eher autoaggressiv.“ Ismene Grebe ist seit sieben Jahren Beraterin bei StoffBruch, einer Beratungsstelle ausschließlich für Frauen in Berlin-Mitte. Oft seien die Patientinnen Doppelbelastungen ausgesetzt. „Sie wollen dem Bild der Powerfrau entsprechen, halten dem aber nicht stand“, berichtet Grebe. Die nächsten Stufen zur Abhängigkeit gleichen sich: Die Patientinnen entwickelten oft eine psychosomatische Störung wie Panikattacken und Kopfschmerzen. Um „sich weiterhin funktionsfähig zu halten“, so Grebe, ließen sie sich entsprechende Präparate verschreiben. Dass sie ein Problem haben, merken sie meist sehr spät – oft erst dann, „wenn medizinische Probleme wie eine Nierinsuffizienz (Nierenversagen) auftreten“. Fachärztin Dagmar Heidt-Müller ergänzt: „Medikamenteneinnahme ist für das Umfeld unauffällig.“ Der soziale Leidensdruck sei niedrig.
Werden sich die PatientInnen ihrer Abhängigkeit bewusst, finden sie in Berlin einige Anlaufpunkte. Es gibt 18 Drogenberatungsstellen, darüber hinaus zahlreiche Initiativen und Selbsthilfegruppen. Ihr Angebot richtet sich meist an alle Süchtigen, gleichgültig an welcher Abhängigkeit sie leiden. Manche Bezirke, so Heidt-Müller, seien im ambulanten Bereich unterversorgt. Keine eigenständigen Einrichtungen habe zum Beispiel der Altbezirk Tempelhof. Tatsächlich wird das vorhandene Angebot wenig genutzt: Nur etwa 5 Prozent der Betreuten bei StoffBruch seien medikamentenabhängig. Rund 106 Patienten suchten 2005 in Berlin insgesamt aktiv Hilfe bei Beratungsstellen.
Vielen Betroffenen fehlt die Erkenntnis, dass sie betroffen sind: Sie gehen schließlich zum Arzt, der ihnen ein Mittel verschreibt. Wieso sollten sie süchtig sein?
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