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cannes cannesDie Kunst der Zuspitzung

Naivität ist eine zweischneidige Waffe: Michael Moore zeigt seinen Film „Sicko“, eine Kritik am Gesundheitssystem der USA

Wie vor drei Jahren, als sein Film „Fahrenheit 9/11“ die Goldene Palme gewann, ging Michael Moores Ankunft in Cannes in diesem Jahr einige Aufregung voraus. Damals wollte Disney den Film, eine Abrechnung mit Bush und dessen Antiterrorpolitik, nicht in den Verleih nehmen, diesmal ermittelt die US-Finanzbehörde gegen den Filmemacher, weil er bei den Dreharbeiten zu „Sicko“, seinem neuen Film, gegen das Kuba-Embargo verstoßen hat. Alles nur Publicity, damit „Sicko“ ins Gespräch kommt? Nein, sagt Moore am Samstag bei der Pressekonferenz, schließlich drohe ihm Haft- oder Geldstrafe, und das sei doch eine sehr ernste Angelegenheit.

„Sicko“ läuft außer Konkurrenz und ist eine Polemik gegen das US-amerikanische Gesundheitssystem. Moore rechnet ab – mit Versicherungsgesellschaften, die an ihren Profiten mehr interessiert sind als am Wohlergehen der Versicherten, mit Krankenhäusern, die Menschen in Not abweisen lassen, mit einer Politik, die die katastrophalen Zustände nicht nur hinnimmt, sondern fördert, solange sie nur Bestechungsgeld dafür erhält. Und er unterhält sich mit Betroffenen – mit den beiden Rentnern, die nach einer Krebserkrankung und drei Herzinfarkten trotz der Krankenversicherung alle Ersparnisse verlieren; mit der Mutter, deren zweijährige Tochter von der Notaufnahme eines Krankenhauses abgewiesen wird und in der Folge stirbt; mit den freiwilligen Bergungsarbeitern von Ground Zero, deren Atemwegserkrankungen heute niemanden mehr interessieren. „Sicko“ opfert dabei Akkuratesse, Faktensicherheit und den neugierigen Blick der Zuspitzung, der inszenierten Realität und oft auch der Rührseligkeit – wo immer es ernst wird, stellt Moore eine Frau vor die Kamera.

Der Regisseur vergleicht das US-amerikanische System mit Kanada, Großbritannien, Frankreich und schließlich auch mit Kuba. Die Gegenüberstellungen muten aus europäischer Sicht naiv an – war es nicht in Großbritannien, wo erstmals Kosten-Nutzen-Rechnungen für Hüftgelenksoperationen erstellt wurden? Nicht minder naiv fällt die Reise nach Kuba aus: Glaubt Moore wirklich, die erstklassige Behandlung, die seine Schützlinge in einem Krankenhaus in Havanna erhalten, habe keinen propagandistischen Hintergrund? Naivität ist eine von Moores liebsten Waffen, und tatsächlich zeitigt ihr Einsatz verblüffende Effekte, etwa wenn der Filmemacher in einem britischen Krankenhaus nach der Kasse sucht und, als er sie findet, feststellt, dass die Patienten hier nicht für ihre Behandlung zahlen, sondern Fahrkosten zurückerstattet bekommen. Oder wenn er mit einer kleinen Jacht vor der Bucht von Guantánamo vorfährt und via Megafon Behandlung für die Bergungsarbeiter von Ground Zero fordert, die ihn begleiten – schließlich sei der Militärstützpunkt „der einzige Fleck auf US-amerikanischem Boden, an dem die medizinische Behandlung nichts kostet“. Doch spätestens in Havanna wird klar, dass Moores Naivität und sein schelmisches Auftreten umso weniger Erkenntnis hervorbringen und umso eher an Grenzen stoßen, je größer das Interesse Dritter ist, sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. CRISTINA NORD

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