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Witzbold und Wutbürger

BÜHNE Poetry Slams dienen talentierten Künstlern immer öfter als Sprungbrett in den etablierten Kulturbetrieb. Der Berliner Till Reiners ist einer von ihnen

Reiners ist beides zugleich: im Stil zurückgelehnt, in der Sache ehrgeizig

VON DENNIS DRÖGEMÜLLER

Eben noch hat das Publikum des „Übel & Gefährlich“ in ausgelassener Stimmung gefällige Kalauer beklatscht. Jetzt starren 700 Augenpaare gebannt auf die Bühne des Hamburger Traditionsclubs, einigen Zuschauern steht der Mund offen. „Wir sprechen doch gerade über die Finanzkrise. Jetzt ist nicht der passende Moment, mir mitzuteilen, wie du dich fühlst.“ Auf der Bühne steht Till Reiners, Jeans, unauffälliger Pullover. Mit ernster Miene erzählt er von den Verunsicherungen unserer Zeit. Wie Sprache die Menschen trennt, wie unaufrichtig der Umgang miteinander ist. „Ich war zu feige, dir die Wahrheit zu sagen. Ich war zu feige, dich zu belügen. Also dosierte ich meine Wahrhaftigkeit nach dem Grad deiner Empörung.“

Reiners formuliert gegen Floskeln und Phrasen an, spricht nachdrücklich und mahnend. Das Publikum jubelt, wenn der 26-Jährige Dinge sagt, die in ihrer Offenheit entlarvend, berührend und trotzdem oft absurd komisch klingen. Ab und an zwingt er seinen Zuhörern Denkpausen auf, manchmal öffnet er die Arme weit und lässt sie resigniert fallen, als wolle er sagen: Hier stehe ich und kann nicht anders. „Wenn wir dann festgestellt haben, dass unsere Unterschiede nicht ausreichen, voreinander Angst zu haben – dann lass uns über die Finanzkrise reden. Dankeschön.“ Fünf Minuten sind um, Reiners verlässt schnell das Mikrofon. Die Anspannung im Raum entlädt sich in Jubel.

Trifft man Till Reiners abseits der Bühne, ist von der leidenschaftlichen Scheinwerferpersönlichkeit erst wenig zu sehen: Schlaksig steht der Ein-Meter-achtzig-Mann in der Tür seiner Friedrichshainer Wohnung. Unsicherheit drückt sich bei ihm körperlich aus, seine Arme hängen etwas verloren herunter.

Sobald die erste Fremdheit überwunden ist und das Gespräch auf ein Thema kommt, das seine Leidenschaft weckt, wird Reiners hellwach und selbstbewusst. Jetzt strahlt er jene Präsenz aus, mit der er das Publikum bei Poetry Slams für sich einnimmt. „Vor meinem ersten Auftritt in Koblenz 2008 habe ich richtig trainiert und war sehr ehrgeizig“, sagt Reiners und richtet sich auf der Wohnzimmercouch auf. „Dann war direkt in der ersten Runde Schluss. Das war schrecklich, aber ich dachte auch: Eigentlich kannst du das.“

Solche Niederlagen hat er schon lange nicht mehr erlebt: An die 200 Auftritte hat der gebürtige Rheinländer seitdem absolviert, dutzende Wettbewerbe gewonnen. Nach dem Umzug nach Berlin 2009 musste er sich zunächst orientieren. „Die Berliner Szene ist viel heterogener, kritischer und verwöhnter, da bin ich anfangs ziemlich durchgefallen“, sagt er. „Aber irgendwann lief es.“ Sogar sehr gut: 2010 wurde Reiners Stadtmeister im Poetry Slam und gewann vor 1.500 Zuschauern die „FritzNacht der Talente“ des RBB.

Andere Wortkünstler betrachten die Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer in wenigen Minuten selbstverfasste Texte vortragen und vom Publikum beurteilt werden, als kreatives Hobby. Reiners macht sein Bühnenleben zum Beruf. „Es war ein großer Schritt, nach dem Studium zu sagen: Ich mache jetzt nur noch das. Aber als ich bei den Meisterschaften im Poetry Slam 2010 von acht Teilnehmern im Finale nur siebter geworden bin, war ich wirklich deprimiert. Und habe gemerkt, dass das Auftreten schon viel mehr als ein nettes Hobby für mich geworden ist.“

Deshalb hat Reiners jetzt eine Agentur, spätestens im kommenden Jahr will er mit seinem ersten Soloprogramm „Da bleibt uns nur die Wut“ als Kabarettist auf Tour gehen. Außerdem bietet er Poetry-Slam-Workshops an und ist Teil des anarchistisch-populärwissenschaftlichen Theaterformats „13 Kurze mit …“ am Theaterhaus Jena. Die Idee zur Bühnenkarriere trug er schon länger mit sich herum. Während seines Soziologie-, Politik- und Pädagogik-Studiums bewarb er sich an Schauspielschulen, „aber eher wegen der Bühnenausbildung als wegen der Schauspielerei. Ich hatte immer schon im Hinterkopf, dass ich Kabarettist werden will“.

Dass Reiners sich zwischen den Welten der vermeintlich leichten Poetry-Slam-Unterhaltung und dem als anspruchsvoll geltenden politischen Kabarett bewegt, spiegelt auch seine Wohnung wieder. Im Bücherregal steht Harry Potter neben Werken zur Theatertheorie, chaotisch gefüllte Ikea-Möbel und ein gut organisierter Schreibtisch teilen sich ein Zimmer. Auch er selbst ist immer beides: Witzbold und Wutbürger, im Stil zurückgelehnt, aber in der Sache äußerst ehrgeizig. Von den leicht verdaulichen Alltagserzählungen, wie sie im Poetry Slam häufig vorkommen, hat er sich emanzipiert. „Ich hatte schnell ein Gefühl dafür, was für eine Textart bei Poetry Slams funktioniert, ohne dass ich mich dabei völlig verbiegen musste“, sagt er. „Die ersten Sachen von mir waren eigentlich nur lustig. Jetzt versuche ich auch etwas mitzuteilen. Ich will sagen, was ich denke, und dafür gemocht werden.“

Plötzlicher Hass

Reiners’ Texte leben von der gleichen aufrichtigen Wut auf die Verhältnisse wie die Spottreden des politischen Kabaretts. „Von Martin Sonneborn gibt es den Satz: ‚Satiriker ist man dann, wenn man morgens die Zeitung aufschlägt und nur kotzen möchte‘ “, sagt Reiners. „So ähnlich geht es mir auch: Manchmal sehe ich nur eine Viertelstunde lang eine politische Talkshow und habe plötzlich Hass in mir.“

Neben Reiners ist es auch anderen Poetry Slammern gelungen, sich von ihren Ursprüngen zu emanzipieren und in den etablierten Strukturen von Comedy, Musik, Literatur oder Journalismus Fuß zu fassen: Reiners’ Kollege Nico Semsrott war bereits als regelmäßiger Studiogast bei „Extra 3“ im NDR zu sehen, der Berliner und ehemalige Deutsche Slam-Meister Volker Strübing arbeitet als Fernsehautor. Exzentriker wie Andy Strauß veröffentlichen regelmäßig Bücher, während Künstler wie Sebastian Krämer vollständig im Kabarett angekommen sind.

Zur Poetry-Slam-Szene, der „Slamily“, hat Reiners ein ambivalentes Verhältnis. „Am Anfang war das nicht so kuschelig, da musste ich mich erst mal beweisen. Bei einem Slam, wo 15 Rampenlichtpersönlichkeiten aufeinandertreffen, bleiben Neid und Konkurrenzverhalten nicht aus“, sagt er. Inzwischen schätze er einige Kollegen sehr, manche zähle er sogar zu seinen Freunden. Emanzipiert hat sich Reiners von der Szene dennoch. „Schließlich verdiene ich damit jetzt meinen Lebensunterhalt.“

Gut von seiner Kunst leben kann Till Reiners jedoch nicht. „Es klappt gerade so“, sagt er. „Ob das nächstes Jahr auch noch so ist, kann ich noch nicht absehen. Diese Unsicherheit muss man in Kauf nehmen.“ Trotzdem gibt er alles für die Bühnenkarriere. „Ich hatte bisher immer einen B-Plan und habe ihn nie gebraucht. Diesmal habe ich keinen.“

Dass Reiners ihn vermutlich auch nicht benötigen würde, zeigt sich einen Tag vor dem triumphalen Auftritt im „Übel & Gefährlich“: Reiners steht im „Molotow“ an der Reeperbahn als Moderator auf der Bühne, er spielt lässig mit dem Publikum, als gäbe es nichts Leichteres. Hinterher kommen immer wieder Leute zu ihm, um ihn zur Moderation zu beglückwünschen. „War echt gut, habe ich schon ganz anders erlebt“, sagt einer. Reiners bedankt sich, lächelt – und nickt.

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