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Ethnopoetische Reise

Auf in die Sahara! Michael Roes sucht nach der Wirklichkeit der Mythen, die uns immer wieder einholen: „Weg nach Timimoun“

In der algerischen Küstenstadt Bejaia erhält der junge Fotograf Laid von seiner Schwester brieflich den Auftrag, in seinen Heimatort Timimoun zurückzukehren und dort den Tod des Vaters an der buhlerischen Mutter und ihrem mörderischen Liebhaber zu rächen. „So ein Unsinn! Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!“, erklärt sein Freund Nadir, dem er davon erzählt. „Die Menschen in Timimoun schon!“, antwortet Laid. Die Tausendkilometerreise in die Sahara, die die beiden Männer gemeinsam unternehmen, ist die Rückkehr in eine grausame Vergangenheit und zugleich Testfall für ein emanzipiertes Leben.

Schon in seinen früheren Werken hat der Schriftsteller Michael Roes in der arabischen Welt die Wirklichkeit jener Mythen entdeckt, die die Aufklärung überwunden glaubte und die uns mit Wucht gleichwohl immer wieder einholt. In ganz unprätentiöser Sprache gestaltet er in dem schmalen Roman ein gewaltiges Thema, das keine Geringeren als Aischylos und in der Neuzeit auch Gerhard Hauptmann und Eugene O’Neill in ihren Atriden-Tragödien angeschlagen haben. Tatsächlich ist das heutige Algerien als Handlungsort nicht schlecht gewählt, wird doch das Wüstenland nicht nur von einem Konflikt zwischen Tradition und Moderne zerrissen, sondern ebenso bedroht von religiösem Fundamentalismus und politischem Terror.

All diesen Schrecknissen der Gegenwart begegnen die beiden Männer auf ihrem Weg nach Timimoun. In den Ortschaften, die ihnen als Einheimische eigentlich vertraut sein sollten, stoßen die Heimkehrer auf Zeugnisse irritierender Fremdheit. Zugleich wächst bei Laid der Zweifel, ob er sich dem Diktat der Vergangenheit wird entziehen können. „Habe ich die Wahl?“, hat er anfangs den Begleiter gefragt. So erweist sich die Rückreise an den Ort der Geburt als Scheideweg. Wird es gelingen, das fluchbeladene Schicksal zu überwinden, den Schritt ins Freie zu tun und damit vom Opfer zum Subjekt der Geschichte zu werden?

Der Ethnopoet Roes lässt dem Fremden das Verstörende und versucht nicht, es sich anzueignen. Sein Interesse gilt archetypischen Situationen. Durch die Engführung von Mythos und Gegenwart ist ihm eine rührende Erzählung gelungen und eine aufwühlende Allegorie auf die Macht der Freundschaft. HERIBERT HOVEN

Michael Roes: „Weg nach Timimoun“. Matthes & Seitz, Berlin 2006, 176 Seiten, 17,80 Euro

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