Groß gedacht, groß geschafft

Rainer Werner Fassbinders TV-Verfilmung von „Berlin Alexanderplatz“ ist ein Mythos. Seit 1984 nicht mehr ausgestrahlt, wurde die Reihe jetzt kinotauglich gemacht. Fast zumindest. Das Meisterwerk büßt in der Großprojektion leider an Qualität ein

VON ANDREAS BUSCHE

Für Spätgeborene ist Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ immer ein Stoff aus dem Reich der Legenden gewesen. Wer sich 1984, dem Jahr der zweiten und bislang letzten Fernsehausstrahlung, noch nicht für Fassbinder interessiert hatte, dem blieben lange Zeit nur die überlieferten Geschichten von Augenzeugen, die massiv zum Mythos „Berlin Alexanderplatz“ beigetragen haben. Teuerste deutsche Fernsehproduktion aller Zeiten. Die geifernde Kritik der Springer-Presse an dem „pornografischen Blutbad“. Oder die fast beleidigten Beschwerden über die fürs Fernsehen untauglichen Lichtverhältnisse der „schwarzen Serie“.

Die Überlieferungen waren so vielversprechend, so Fassbinder-typisch, dass man sich insgeheim ein eigenes Bild von dem fünfzehnstündigen Opus zu machen begann; man kannte schließlich viele der Gesichter, teilweise noch aus der eigenen Fernsehsozialisation der frühen Achtziger. Und auch wenn sich schon 1980, vor der TV-Ausstrahlung fast noch, abzuzeichnen schien, dass „Berlin Alexanderplatz“ ein Schlüsselwerk in Fassbinders Karriere werden sollte: Der Mangel an Verfügbarkeit tat sein Übriges, um die 14-teilige Serie zu mythologisieren. Fassbinder selbst sollte die spätere Rehabilitierung von „Berlin Alexanderplatz“ – im Zuge der Wiederentdeckung von Fassbinder Ende der Neunziger – nicht mehr erleben. Er starb knapp 18 Monate nach der Erstausstrahlung; in diesen anderthalb Jahren hat er noch fünf weitere Filme abgedreht.

Die Erstbegegnung mit „Berlin Alexanderplatz“ auf der diesjährigen Berlinale kommt daher einem Realitätscheck gleich. Das, was auf der Leinwand geschieht, mit dem überhöhten Bild abzugleichen, das sich in der eigenen Vorstellung eingegraben hat, erfordert ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung. Fassbinder ist für jene Sorte Kritiker, die mehr über ihre eigene Erwartungshaltung schreiben als über das, was sie tatsächlich zu sehen kriegen, ja immer ein Gräuel gewesen. Doch man kann sich diesem Monstrum von Film, einem der größten unbekannten Meisterwerke der Filmgeschichte, nach über zwanzig Jahren nicht unvoreingenommen nähern.

Die Serie läuft auf der Berlinale zum ersten Mal in der Form, die Fassbinder sich gewünscht hätte – auf 35 mm. Darum hat man dem Titel auch ein „Remastered“ angehängt hat. Im Grunde war es konsequent, so lange auf „Berlin Alexanderplatz“ gewartet zu haben. Die schlechten Videokopien, die einem von Zeit zu Zeit in die Hände gefallen waren, konnten Fassbinders Vision vom großen Kino im Fernsehformat nämlich kaum gerecht werden. Die ersten beiden Folgen von „Berlin Alexanderplatz: Remastered“, im Vorfeld der Berlinale für die Presse als 35-mm-Kopie aufgeführt, verdeutlichen noch einmal, dass Fassbinder stets groß dachte und groß schaffte – eine Einstellung, die er seinerzeit mit den wenigsten in den öffentlich-rechtlichen Fernsehgremien teilte. Die Konsequenzen dieser Verzagtheit bei Bavaria und dem italienischen Staats-TV RAI, die „Berlin Alexanderplatz“ damals im Auftrag des WDR produzierten, werden einem heute schmerzlich bewusst: Aus Kostengründen musste Fassbinder damals auf 16 mm filmen – und stellte die Serie dann in Rekordzeit und einem fantastischen Drehverhältnis von 1:3 fertig. Heute, wo Fassbinder allerorten zum deutschen Kulturgut erklärt wird, rächt sich diese Knauserigkeit bitter.

Denn auf der großen Leinwand machen sich die spezifischen Eigenschaften des 16-mm-Materials deutlich bemerkbar. Zwar konnte Fassbinders damaliger Kameramann Xaver Schwarzenberger für „Berlin Alexanderplatz: Remastered“ größtenteils auf das geschnittene Originalnegativ zurückgreifen, das zunächst digital abgetastet und danach auf 35 mm aufgeblasen wurde. Aber die inhärenten qualitativen Unzulänglichkeiten des Originalmaterials sind in der Großprojektion gravierend. Stellenweise zerfrisst die stark vergrößerte Kornstruktur des Filmmaterials die Konturen von Schwarzenbergers kontrastreichen Bildern regelrecht. Zudem scheinen sich immer wieder auch digitale Artefakte in die nachproduzierten Bilder eingeschlichen zu haben. So hinterließ die Aufführung den ernüchternden Eindruck, dass die Projektion einer 16-mm-Kopie ein visuell vielleicht doch satisfaktionsfähigeres Erlebnis gewesen wäre.

Die Tatsache, dass sich das Ausgangsmaterial, zumindest in der derzeitigen Bearbeitung, derart schlecht für eine Großprojektion eignet, lässt die berechtigte Befürchtung zu, dass mit „Berlin Alexanderplatz“ ein filmisches Meisterwerk für das Kino vielleicht tatsächlich verloren ist. Für das Kino, wohlgemerkt. Man wird sich zukünftig wohl mit dem weniger hochauflösenden DVD-Format begnügen müssen, will man Fassbinders Meisterwerk ohne jede Einschränkung genießen. Dem ursprünglichen Seherlebnis in der Fernsehausstrahlung käme das sowieso viel näher.

Denn gerade im kleinen Format zeigt sich ja Fassbinders visionäre Größe, wie im Kino jetzt noch einmal zu überprüfen ist: Fassbinder beweist, dass man nämlich auch im Fernsehen Kino machen kann. Selbst im Zeitalter von HiDef-Bildschirmen würde es kaum ein Regisseur wagen, einen Fernsehfilm zu drehen, dessen Lichtverhältnisse denen in den Arbeiterkasernen der Dreißigerjahre nachempfunden sind (unter anderem filmte Schwarzenberger mit einem über das Objektiv gestülpten Nylonstrumpf). Manche Szenen wirken selbst im Kino noch, als hätte jemand einfach das Licht ausgeknipst.

Der bundesrepublikanische Fernsehzuschauer sah darin damals einen Affront. Hier zeigte sich aber auch wieder Fassbinders Dickköpfigkeit. Er hatte im Fernsehen immer das „relevantere“, dringlichere Medium gesehen, weil man ein viel größeres, weniger sophisticated Publikum erreichte. Deswegen kam für ihn eine Annäherung an das Publikum, dem er später eine ästhetische Konditionierung durch die Abendnachrichten vorwarf, gar nicht in Frage. Lieber überließ er es der Nachwelt, über sein Werk zu urteilen.

„Berlin Alexanderplatz: Remastered“, Regie: Rainer Werner Fassbinder. Mit Günter Lamprecht, Barbara Sukowa, Gottfried John, Hanna Schygulla; Deutschland 1979/80, 939 Min.Bei der Galapremiere heute werden die ersten beiden Teile als digitale Projektion aufgeführt (Admiralspalast, 21 Uhr); am Sonntag läuft in der Volksbühne die gesamte Serie als 35-mm-Kopie (ab 10 Uhr); im Cinemaxx laufen ab Montag täglich zwei Teile