: Gift für die Stasi
WIDERSTAND In der DDR setzte Roland Jahn der Staatssicherheit Renitenz und Humor entgegen. Vom Westen aus bekämpfte er sie mit Kamera und Mikrofon. Ab Montag ist er der Herr über die Akten des Geheimdienstes
■ Das Amt: Am Montagabend wird Roland Jahn zum Herrn über die Akten des DDR-Geheimdienstes. Als Nachfolger von Joachim Gauck, der den Job bis 2000 gemacht hatte, und Marianne Birthler, die nun abtritt. Offizieller Titel: Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Die Behörde hat 1.800 Mitarbeiter. Anträge auf Akteneinsicht kann jeder stellen. Bisher haben es rund 1,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger gemacht. Akteneinsicht bekommen Privatpersonen, aber auch Wissenschaftler und Journalisten. Auskünfte erhalten Parlamente und Behörden.
■ Die Akten: Berichte, Befehle, Abhörprotokolle, Karteikarten – die Stasi dokumentierte alles. Dazu Tonbänder, Filme, Mikrofilme. Einige 1989 zerrissene Akten werden noch rekonstruiert – ein Grund, weshalb immer wieder neue Fakten auftauchen. Würden alle bislang archivierten Stasiakten mit dem Aktenrücken aneinandergereiht, ergäbe dies eine Regallänge von rund 158.000 Metern. Viele Meter handeln von einer einzigen Zielperson: Roland Jahn.
VON PHILIPP GESSLER
Am Tag der Revolution wurde Roland Jahn geboren. Am 14. Juli, dem Tag, an dem im Jahr 1789 mit der Erstürmung der Bastille die Französische Revolution begann. Sein Geburtsjahr war 1953, das Jahr, in dem in der DDR ein Volksaufstand die SED-Diktatur hinwegzufegen versuchte. Wer den 14. Juli 1953 seinen Geburtstag nennen kann, der muss ein Revolutionär werden, ein Freiheitskämpfer. Oder?
Natürlich nicht. Dennoch begann mit der Geburt Roland Jahns in Jena ein bemerkenswertes Leben und ein Duell besonderen Ranges: Der kleine Jahn wurde zu einem der größten Feinde des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Nun, mit 57 Jahren, wird er sie endgültig beherrschen, zumindest ihre Akten, ihr Erbe. Am Montagabend wird Jahn in sein neues Amt als Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde eingeführt. Es wird eine feierliche Zeremonie im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums Unter den Linden geben. Joachim Gauck, Marianne Birthler – und nun Roland Jahn. Erich Mielkes Gerippe dürfte im Grab rotieren.
Denn Jahn war Mielkes Albtraum. In fast jeder der wöchentlichen Runden mit seinen Generälen erregte sich der Stasichef in den Jahren 1988/89 über „die Person des Jahn“, wie es in der blechernen Sprache des Geheimdienstes hieß. Er schickte seine Leute los. Doch am Ende gewann Jahn. Wie hat Jahn das geschafft?
Jahn sitzt im Hinterhaus eines Altbaus im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Er lacht oft, tonlos meist, und er versucht zu erklären. Seltsame, traurige, abenteuerliche Geschichten von früher erzählt er. Sie kontrastieren stark mit der satten Latte-macchiato-Welt dieses Viertels. Jahn, ein etwas zu jugendlich gekleideter Mann mit kurzen, weißen Haaren, hat in diesen Räumen seine politische Heimat, wie er sagt. Hier residieren die Robert-Havemann-Gesellschaft und das Matthias-Domaschk-Archiv. Sie halten, staatlich gefördert, die Erinnerung an die DDR-Opposition wach. Havemann war lange Zeit der Staatsfeind Nr. 1 der DDR, Domaschk war Jahns Freund. Er kam in Stasihaft zu Tode.
In den Räumen im Prenzlauer Berg ist Jahn umgeben von Freunden aus der DDR-Opposition. Der Umgangston ist kumpelhaft. Seine Mitstreiter aus alten Tagen frotzeln mit ihm, wenn er vor lauter Stress etwas zu bossig zu werden droht. Alles, was hier zu sehen ist, ist ihre Geschichte. Und oft ist Jahn darin der Held.
Ein gelernter Held. Denn das Revoluzzertum wird ihm nicht an der Wiege gesungen. Jahns Mutter arbeitet als Buchhalterin an der Uni Jena. Sein Vater ist Konstrukteur beim VEB Carl Zeiss Jena. Er hat sich vom technischen Zeichner hochgearbeitet. Kein Parteimitglied, eher unpolitisch. Die Leidenschaft des Vaters gilt dem FC Carl Zeiss Jena, 1968 und 1970 DDR-Meister. Jahns Vater baut die Jugendabteilung auf. Im Krieg hat er ein Bein verloren – und den Traum von der Profikarriere. Aber die Liebe zum Fußball überträgt er auf seinen Sohn Roland.
„Fußball war mein Leben“, erzählt Roland Jahn. Er spielt in der Jugendabteilung des FCC, im Mittelfeld, und schafft es in die Junioren-Oberliga der DDR. Jahn ist bei den Jungen Pionieren, dann in der FDJ, der Parteijugend. „Ich bin nicht als Staatsfeind geboren“, sagt er heute.
Aber der junge Jahn stellt zu viele Fragen. Sein Klassenlehrer schreibt in der achten Klasse ins Zeugnis: „Er neigt dazu, in Opposition zu treten.“ Als ein Lehrer einen Freund zwingen will, seine langen Haare abzuschneiden, fährt Jahn nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Er protestiert im Volksbildungsministerium von Margot Honecker dagegen. Mit Erfolg, die Lehrer kuschen, stillschweigend dulden sie die Frisur.
Ostmucke bei FDJ-Feten? Er legt 100 Prozent West auf
Überhaupt, wichtiger als Politik sind lange Haare, Jeans – und die Musik. Bei FDJ-Feten legt Jahn auf, missachtet aber die Order 60-40, also 60 Prozent Ostmucke, 40 Westmusik. „Wir haben natürlich 100 Prozent West gespielt“, erzählt er. Das gibt Ärger. Die Westband Ton Steine Scherben mit den Texten von Rio Reiser bedeutet Jahn viel, noch heute. Er zitiert ein paar Zeilen eines Scherben-Lieds: „Alles verändert sich / Wenn du es veränderst / Doch du kannst nicht gewinnen / Solange du allein bist.“
Er hat sein Leben nach diesen Zeilen ausgerichtet.
Trotzdem hätte da aus ihm noch ein braver Untertan werden können, „Ich war in den Bahnen einer DDR-Biografie“, sagt er, „ich wollte ein Teil der Gesellschaft sein.“ Nach der Schule steht zunächst der Wehrdienst an, er geht zur Bereitschaftspolizei. Eigene Waffengattung, durchaus anerkannt, Haare kurz.
Auch in der Polizeikaserne eckt er an. Die Offiziere schäumen, als er 63 Tage vor seiner Entlassung eine riesige 63 in den Schnee des Fußballplatzes walzt. Eine Sieben, geformt aus Feuerwehrschläuchen, kommt auch schlecht. Als er sich unerlaubt zu seiner Freundin nach Jena absetzt, landet er im Arrest. Mit einem Besteck ritzt er in die Zellenwand: „Alles verändert sich / Wenn du es veränderst.“ Jahn sagt später: „Dieser Staat hat sich seine Staatsfeinde geschaffen.“
Trotzdem kann er studieren, er wählt die Wirtschaftswissenschaften. Die Haare dürfen nun wieder lang sein. Er geht zu Orgelkonzerten in die Stadtkirche, um mit Langhaarigen zusammen zu sein. In dieser Zeit trägt er einen Spitznamen, verewigt auch auf einem T-Shirt: „Gag“.
Der Name rührt eher von der Quantität seiner Gags her. „Wir konnten nicht immer lachen“, erzählen Freunde von damals. Es sind Eve und Frank Rub, ein Künstlerpaar, damals in der Opposition wie Jahn. Das Paar wärmt sich im Garten seines Hauses in dem Dorf Graitschen bei Jena an der ersten Frühlingssonne. Der Name „Gag“ beschreibt, wie Jahn seinen Widerstand betreibt: absurd, spielerisch, humorvoll. „Es hat Spaß gemacht“, sagt Jahn, „eigentlich wollten wir nur Party machen.“ Und selbstbestimmt leben.
An der Uni Jena protestiert Jahn gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 – und das ausgerechnet im Seminar für Marxismus-Leninismus. „Sie vertreten mir zu sehr die Volksmeinung“, herrscht ihn ein Professor an. Von seinen vierzehn Kommilitonen stimmen dreizehn für seine Exmatrikulation. Sein Vater warnt: Du behinderst meine Karriere, „für so’n Liedermacher, ist es das wert?“ Diese Sippenverfolgung sei schlimm gewesen, sagt Jahn. „Das ist die DDR.“ Er sagt „ist“, nicht „war“.
Seine Mutter und er legen Beschwerden ein gegen die Exmatrikulation. Devot, wie er heute urteilt. So tief sei er „ein Teil des Systems“ gewesen. Jahn sagt, nötig sei ein „Bekenntnis zur eigenen Biografie“. Man müsse „bereit sein, auch mal nicht so gut dazustehen“. Auch diese Selbstkritik brachte ihm später bei der Wahl zum Stasiakten-Chef im Bundestag 26 Stimmen der Linkspartei. Immerhin.
Jahn muss ab 1977 zur „Bewährung in der Produktion“, wie das heißt, als Transportarbeiter beim VEB Carl Zeiss Jena. Die Stasi überwacht ihn. Gag wagt immer mehr politische Gags. Auf eine offizielle Parade zum 1. Mai geht er mit einem leeren Plakat. Er verschickt Postkarten von sich als Arbeiter. Hinter Gittern. Er gilt nun als „Zersetzer“, wird als „feindlich-negative“ Person observiert. Bei einer Festnahme zischt ein Stasi-Mann: „Du bist wie Gift, Gift gehört in den Giftschrank, und der muss abgeschlossen werden.“
Jahn macht weiter. Dann wird der politische Spaß todernst: Sein Freund Matthias Domaschk stirbt am 12. April 1981 in der Stasi-Untersuchungshaft in Gera. „Matz“ wird erhängt in seiner Zelle gefunden. Wenig spricht für Selbstmord. „Von uns konnte niemand recht glauben, dass Matz sich umgebracht hat“, sagt Jahn. Dazu sei er zu lebenslustig gewesen, er habe heiraten wollen. „Es ging nun nicht mehr um die Frage: ‚Wird jemand verhört? Wird jemand inhaftiert? Wie steht er das durch?‘ “, sagt Jahn. „Es ging um Leben und Tod.“
Am ersten Jahrestag von Matzes Tod schalten Jahn und andere in den SED-Zeitungen eine Todesanzeige in Erinnerung an den Freund. Jahns Strategie ändert sich nun, er sucht den Schutz der Öffentlichkeit, auch der im Westen. Er informiert den Westberliner Sender Rias über den Fall und die Anzeigen. Der Künstler Michael Blumhagen aus Graitschen fertigt zu Ehren von Matz eine zentnerschwere Kalksteinplastik an, die auf dem Jenaer Johannesfriedhof aufgestellt wird. Die Stasi lässt das Haus Blumhagens abreißen. Als sie auch noch Matzes Plastik entfernt, fotografiert Jahn das heimlich und spielt die Bilder dem Spiegel in Hamburg zu. Eine Blamage für die Stasi.
Jahns Tochter könnte ins Heim, droht der Lächler
Bei der Parade zum 1. Mai 1982 stellt sich Jahn geschminkt neben die Ehrentribüne: In der einen Gesichtshälfte hat er einen Schnauzer à la Stalin, die andere Hälfte schmücken Hitlerbärtchen und Scheitel. Diese Aktion wird als Postkarte verschickt, auch sie findet ihren Widerhall im Spiegel – Mielke muss getobt haben. Als Jahn im September 1982 sein Rad mit einem polnischen Fähnchen ausstaffiert, auf dem auf Polnisch „Solidarität (Solidarnosc) mit dem polnischen Volk“ steht, schlägt die Stasi zu.
Jahn wird verhaftet. In Gera bekommt er eine Einzelzelle, Mielkes Leute isolieren ihn, entziehen ihm den Schlaf. Ein Bewacher würgt Jahn, bis er ohnmächtig wird. Sein Vater darf die Jugendabteilung des FCC nicht mehr leiten, sein Lebenswerk – perdu. Oberleutnant Hans Joachim Seidel, von den Gefangenen „Lächler“ genannt, verhört Jahn. Der Lächler droht, seine dreijährige Tochter Lina, die er mit seiner Freundin Petra Falkenberg hat, könnte ins Heim kommen. „Ob Sie die Schuleinführung Ihrer Tochter erleben, da setzen wir mal ein großes Fragezeichen“, erklärt der Stasioffizier. Über den ebenfalls inhaftierten Frank Rub sagt er: „Dem hacken wir die Beine spitz. Und Sie sind schuld daran. Wollen Sie das?“
Mehrmals bricht Jahn zusammen.
Aber er wehrt sich. Er verweigert, geschult durch das Buch „Vernehmungsprotokolle“ seines Freundes, des Dissidenten Jürgen Fuchs, jede Aussage zur Sache, zu Aktionen und anderen Oppositionellen. Wochenlang. Die Verhöre, etwa einmal im Monat, sind so etwas wie Erholung für ihn, da er dann überhaupt mit jemandem spricht. Allerdings nimmt er sich vor, den Spieß umzudrehen, die Stasi-Verhörer ebenso eklig, gezielt und persönlich zu attackieren, wie sie es tun: Reden die von seiner Freundin und ihrem angeblichen neuen Liebhaber, zweifelt er die Potenz seiner Verhörer an. Drohen die seinem Kind Unglück an, fragt er sie, was ihre Kinder eines Tages zu ihrem Tun sagen werden. „Ran an die Substanz“ der Verhörer, nennt er das heute. Es sind kleine Triumphe über die Peiniger. Das soll Kraft geben.
Nach knapp sechs Monaten Haft wird Jahn unter anderem wegen „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ zu fast zwei Jahren Gefängnis verurteilt, aber kurz danach wegen öffentlicher Proteste, gerade aus Westdeutschland, entlassen. In der Haft hat er in einem Moment der Schwäche einen Ausreiseantrag gestellt. Er widerruft ihn mündlich, sobald er wieder frei ist. Und er macht weiter. Jahn gründet mit etwa 30 Freundinnen und Freunden die Friedensgemeinschaft Jena, demonstriert, trägt dabei ein Plakat: „Schwerter zu Pflugscharen“.
Anfang Juni 1983 wird es Mielke zu bunt. Er lässt einen Plan für den Rauswurf Jahns aus der DDR entwerfen. Handschriftlich vermerkt der Stasi-Chef darauf: „Einverstanden.“ Und fügt dringlich hinzu: „Abschiebegewahrsam garantieren.“
Einen Tag später verhaftet die Stasi Jahn. Geknebelt und gepackt von sechs Stasileuten, wird er mitten in der Nacht in den Gepäckwagen eines Zugs nach Bayern geworfen. Es ist eine Ausreise unter Zwang.
Jahn will die DDR nicht aufgeben. Er weigert sich, den Pass der Bundesrepublik entgegenzunehmen. Er zieht nach Westberlin, trifft sich mit anderen früheren Oppositionellen in der „Weltlaterne“ in Kreuzberg, bestellt Zaziki – und verkneift sich vor lauter Respekt sogar Gags, wenn der Intellektuelle Fuchs redet, wie Eve Rub erzählt. Mit Fuchs bildet er den Kern der DDR-Opposition in West-Berlin.
Dabei ist Jahn kein Kalter Krieger. Anders als viele in der Mauerstadt. Er ist nicht verbittert. Er schreibt viel für die taz, redigiert ihre „Ost-Berlin-Seite“. Im selben Großraumbüro: Till Meyer. Später wird klar, der war Stasispitzel. Heute lacht Jahn darüber.
Viele aus der linken Szene Westberlins können Jahn nicht leiden, weil er die DDR kritisiert. Aber er nimmt auch den Westen aufs Korn, geht auf Demos gegen die Räumung besetzter Häuser. In Bitburg beteiligt er sich an einer Sitzblockade gegen die Aufrüstung. Die westdeutsche Polizei schleppt ihn weg. Er wird zu 900 Mark Geldstrafe verurteilt. Statt zu zahlen, geht er 1985 lieber dreißig Tage in den Knast.
Irgendwann realisiert er, dass er mehr Öffentlichkeit braucht, um die Aktionen der DDR-Opposition zu stützen. Er wird zunächst Informant des ARD-Magazins „Kontraste“, dann schnell gleichberechtigter Partner des Redakteurs Peter Wensierski.
Wensierski ist heute beim Spiegel. Er sitzt in einem Raum im Hauptstadtbüro des Magazins, der Pariser Platz liegt unter ihm. Wie bestellt geht gerade hinter der Quadriga des Brandenburger Tors die Sonne rotorange unter. Wensierski ist ein erfahrener Journalist, er gibt sich als cooler Profi. Und doch fängt er an zu schwärmen über die Zeit mit seinem Freund Roland. „Für uns beide war nichts reizvoller, als die Mauer des Schweigens im Osten mit unseren Beiträgen zu durchbrechen“, sagt Wensierski. „Es macht auch Spaß, eine Diktatur zu beseitigen. Es hat jedenfalls 1989 Spaß gemacht.“
Wanzen im „Einstein“ und Jahns Kameratrick
Da ist es wieder: der Kampf gegen die DDR, ohne Jammern und Bitternis. Sondern mit Humor.
Sie motivierten sich gegenseitig. „Sich um die DDR zu kümmern galt als eine etwas abseitige Passion“, sagt Wensierski. Vielen ging Stabilität vor Freiheit – das gleicht der Leisetreterei des Westens gegenüber Diktatoren wie Mubarak und Gaddafi.
In „Kontraste“ berichten sie, wie sich zunächst langsam und sehr bunt, doch dann immer massiver in der DDR der Widerstand formiert. Jahn und Wensierski helfen der Opposition. Sie lassen, durch Diplomaten und Westpolitiker wie Petra Kelly, Bücher und Druckmaschinen nach drüben schmuggeln.
Mielke setzt mehrere Dutzend Stasileute auf Jahn an. In Westberlin spitzeln sie selbst den Schulweg seiner Tochter aus. Das „Café Einstein“ in der Kurfürstenstraße wird wegen Jahn verwanzt. Dort sitzt er gern.
Empfindlich trifft die Stasi ein Trick: Jahn und sein Kollege schleusen Videokameras in die DDR. Oppositionelle filmen damit brisante Szenen, die dann wieder in „Kontraste“-Beiträgen landen. Vor allem in der DDR, wo überall Westfernsehen geschaut wird, wirken die Bilder enorm. Diese Öffentlichkeit schützt die Oppositionellen im Osten.
Eine Kamera von Jahn hält auch die Montagsdemo in Leipzig am 9. Oktober 1989 fest. 70.000 Menschen protestieren. Ein Spiegel-Korrespondent schmuggelt das Band in den Westen. Die DDR-Bürger sehen die Bilder im West-TV und wissen nun: Die Opposition ist stark.
Die Überwachung Jahns geht sogar nach dem Mauerfall am 9. November 1989 ein paar Wochen weiter, so sehr hasst ihn die Stasi. Dann ist endlich Schluss. In den Neunziger Jahren dreht Jahn auch Beiträge zu anderen Themen als nur zur DDR, etwa über Neonazis. Später wird er stellvertretender Redaktionsleiter von „Kontraste“. Das Thema DDR bleibt. Mit Wensierski interviewt er eine scheinbare Freundin Bärbel Bohleys. Die befreundete Dame war Spitzel. Sie weint vor der Kamera. Ex-Stasi-Leute knallen die Tür vor Jahn zu, weil er sie zu Hause aufsucht und nach ihrer Schuld fragt. Etwas Patina haben die Beiträge bereits, aber viele sind sehr stark. Besonders einer: über Matthias Domaschk. Und seine Peiniger. Die schweigen.
Nun wird Jahn Chef der Behörde, die unter Gauck ihre wilden Jahre erlebte, mit politisch explosiven Aktenfunden fast im Wochenrhythmus. Unter Birthler wurde es ruhiger. Aber nicht sehr. In ihrer Zeit wurde der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss, als Stasispitzel enttarnt. Vor vier Jahren wurde bekannt, dass 54 Mitarbeiter ihrer Behörde eine Stasibiografie hatten. Birthler setzte durch, dass die Akten noch nicht ins Bundesarchiv überführt werden. Das ist eigentlich für 2019 geplant. Wird Jahn das Licht in seinem Amt löschen? Er hat dem MDR gesagt, das Wegschließen der Akten wäre „ein Selbsttor“: „Die Akten helfen uns zu erinnern, die Akten helfen uns, zu beschreiben, wie das damals war. Ich kann doch nicht freiwillig auf Informationen und Aufklärung verzichten.“
Roland Jahn – Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde. Das ist eine besondere Volte, der größte Gag der Geschichte. Mielke und Co. wollten ihn fertigmachen, nun hat er sie in der Hand.
Im Archiv.
Prophetisch hat Rio Reiser 1971 in seinem Scherben-Lied „Alles verändert sich“ benannt, was Jahn und sein Wirken erklärt. Darin heißt es: „Es gibt keine Wahrheit / Wenn wir sie nicht suchen / Es gibt keine Freiheit / Wenn wir sie nicht nehmen.“ Jahn hat dieses Lied in seiner Stasihaft gesungen.
■ Philipp Gessler, 44, ist taz-Reporter. In München geboren, in Gießen Geschichte studiert. Zwei DDR-Aufenthalte vor der Wende
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