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Ich gehöre nicht in diese Welt

Demenz ist ein Thema, das berührt. Immer mehr Menschen sind davon betroffen. Als Angehörige. Als Patienten. Als Pfleger. Die Schöners möchten ein Tabu brechen. Ilse Schöner hat Alzheimer. Und ihr Mann Rainer pflegt sie seit Jahren. Eine Langzeitreportage

von Susanne Stiefel

Der Schock war groß, die Diagnose niederschmetternd. Als Ilse Schöner hörte, dass sie an Alzheimer litt, war nur ein Verdacht zur Gewissheit geworden, und die vielen Vergesslichkeiten hatten sich zu einem Krankheitsbild gefügt. Eine Zeit lang hat sie diese Gewissheit gelähmt, die sich wie ein Feind in ihr Leben geschlichen hat. Doch dann gingen Ilse und ihr Mann Rainer in die Offensive.

Sie ließen es zu, dass sie von einer Reporterin dabei begleitet wurden, wie sie als Paar ihren immer schwieriger werdenden Alltag gemeinsam meisterten. „Wir wollen, dass andere von unseren Erfahrungen profitieren“, sagen die Schöners tapfer. Und dass diese Krankheit kein Tabu mehr ist. Mehr als ein Jahr lang gab es fast monatlich ein Treffen. Und doch wollen sie ihren Namen nicht preisgeben, ihr Gesicht nicht zeigen. Und das hat viel mit Scham und noch mehr mit Würde zu tun. Protokoll einer Reise ins Vergessen.

Dezember 2009 Rituale geben einem Leben Halt. Vor allem wenn es auf die schiefe Ebene geraten und rasant ins Rutschen gekommen ist. Täglich um 15 Uhr ist Soap-Time, dann sitzt Ilse Schöner vor dem Fernseher und lässt sich fallen in die aufregende Welt der Intrigen, des Verrats und der Leidenschaft. „Sturm der Liebe“, Folge 972: „Der lacht da immer drüber“, sagt die 70-Jährige mit dieser stockenden Stimme, die die Wörter zählt, und deutet auf ihren Mann. Die Frau mit dem grauen Bubikopf kümmert das nicht. Sie ist süchtig nach diesen 50 Minuten wie nach einer kleinen Ruheinsel, auf der das Leben überschaubar, berechenbar und wohltuend unwirklich ist. „Sturm der Liebe“ ist Flucht und Halt zugleich. Und wenn die Schöners mal zum Arzt müssen, was immer öfter notwendig ist, dann wird die Folge aufgenommen. Basta! Es gibt Dinge, über die wird im Hause Schöner nicht lange diskutiert.

Dazu gehört auch, dass er sich um seine Frau kümmert, solange er kann. Dass sie nicht ins Heim kommt, solange er die Pflege schafft. Dass das Dachgeschoss des Reihenhauses ausgebaut wird, damit dort eine Pflegerin einziehen kann, wenn er an seine Grenzen gelangt ist. Gerade sind die Bauarbeiten abgeschlossen. „Das kriegen wir schon hin, Ilse, gell?“, sagt er und streichelt ihren Arm. Sie lächelt verschwommen, taucht auf aus der Abwesenheit, in der sie immer wieder verschwindet. Das Vergessen hat ihre Erinnerung schon schmelzen lassen.

Die Gegenwart entgleitet ihr wie eine nasse Seife

Sie kennen sich seit mehr als 44 Jahren. Sie hat als Sekretärin bei Sandoz in Basel gearbeitet, er war ein „armer Schlucker“, wie sie sagt. 1969 gab es ein rauschendes Silvesterfest mit der katholischen Jugend, am nächsten Tag sind sie mit Freunden im Regen spazieren gegangen. Er trug den Schirm, sie hat sich untergehakt. „Das gibt ein Paar“, haben ihre Freundinnen gesagt. Sie war zögerlich, aber seine Beharrlichkeit hat ihr imponiert. „Ich hätte viele haben können“, sagt Ilse Schöner an diesem sonnigen Dezembertag. Sie trägt eine Kette, passend zum Pulli, die Augen sind wach. Die Erinnerung fällt ihr leicht – sie ist wieder jung und das Leben noch einmal schön und voller Verheißungen.

Sie hat zwei Kinder bekommen; als die größer waren, hat sie wieder als Sekretärin gearbeitet. Ilse Schöner erzählt langsam, betont die einzelnen Worte, strengt sich an. Doch je näher die Gegenwart kommt, desto mehr entgleitet ihr das gelebte Leben wie nasse Seife. Ilse Schöner hat die Hände unter die Schenkel geklemmt, sitzt vornübergebeugt. Sie konzentriert sich auf ihre Lebensgeschichte, freut sich, wenn sie die richtigen Worte findet. Doch manchmal werden ihre Augen groß und seltsam leer. Dann verliert sie sich, hört auf zu sprechen. Und die Traurigkeit kommt mit dem Wissen, dass nichts mehr besser wird. Mit der Gewissheit, dass dies nur der Anfang ist.

Den Schöners hilft ihr Glaube. „Wir sind linke Christen“, sagt Rainer Schöner. Und so ist neben „Sturm der Liebe“ auch der sonntägliche Kirchgang eine feste Größe in ihrem Leben. Lange hat Ilse Schöner als Pfarrgemeinderätin im Krankenhaus Patienten besucht und ihnen Trost gespendet. „Ich habe immer gerne mit den Leuten geredet“, sagt sie, die nun selbst Patientin ist. Immer war sie die Gesellige und er derjenige, den man mitschleppen musste, der öfter mal Migräne hatte, sich gern zurückzog. Nun fehlen ihr immer mehr Wörter und Gesichter.

Vor Kurzem, an einem sonnigen Dezembertag 2009, hat sie wieder ein Wort verloren. Sie nippte am Kaffee und beklagte sich, dass der so schlecht schmecke. „Du musst halt umrühren“, sagte ihr Mann. Sie schaute ihn nur verständnislos an. „Umrühren. Nimm den Löffel, dann rühr rum, guck, so“, versuchte er zu erklären, weil er will, dass sie sich anstrengt, übt, sich nicht unterkriegen lässt. Die Schöners sind Kämpfer. Doch diesen Kampf kann keiner gewinnen. Umrühren? „Mach halt du“, sagte sie nach einer angestrengten Pause resigniert. Wieder eine kleine Niederlage.

Januar 2010 Ilse Schöner hat sich extra fein gemacht. Gestern war sie beim Frisör, heute hat sie den neuen Pulli angezogen, braun und hellblau gestreift. Sie lacht und erzählt mit dieser spröden Stimme, der man anmerkt, dass sie nicht mehr viel gebraucht wird. Ilse Schöner redet immer weniger. Heute ist sie munter. Sie erzählt vom Enkelkind, das so wunderbar Trompete gespielt hat, und von Weihnachten bei den Kindern.

„Es kommt in Schüben“, sagt Rainer Schöner später, als es 15 Uhr ist und Ilse Schöner sich auf „Sturm der Liebe“ vorbereitet. Und manchmal gibt es eben solche guten Tage, an denen sie wie heute Morgen beschließt, sich für den Besuch schön zu machen. Er hat sie nach oben geschickt, weil er wollte, dass sie es allein schafft. „Hilf mir“, hat sie gesagt, wie immer, aber er war eisern. Da hat sie das Unterhemd über den Pulli gezogen, und er hat ihr halt wieder geholfen. Gestern versuchte sie, mit den Füßen zuerst in den BH einzusteigen. „So doch nicht“, hat er gesagt, und sie haben gemeinsam gelacht. Doch manchmal wird sie bockig jetzt, wenn etwas nicht klappt und er ihr nicht sofort hilft. „Dann kann sie schon mal feurig werden“, sagt er, und das klingt wie eine Sehnsucht nach vergangenen Tagen. Abends fällt sie ihm nun manchmal um den Hals und sagt: „Wie schön, dass es dich gibt und du mir so hilfst.“ Da weiß er wieder, dass es richtig ist, so wie sie den Alzheimer anzupacken.

Rainer Schöner muss viel lernen: kochen, einkaufen, die sozialen Kontakte pflegen, seine Frau pflegen, den ganzen Schriftverkehr mit Krankenkassen, Pflegeeinrichtungen, all die Anträge bis hin zum Schlüssel fürs Behindertenklo. Die Rollen waren immer anders verteilt in ihrem bisherigen gemeinsamen Leben. Sie hat die zwei Kinder versorgt, er hat gearbeitet, sich weiter fortgebildet, sich auch so verausgabt, dass er einen Zusammenbruch hatte. Sie hat ihn gepflegt, ihn aufgerichtet und mit ihm zusammen das Reihenhaus gebaut. Die Kinder sind längst aus dem Haus, wohnen in anderen Städten. Sie kommen jetzt öfter zu Besuch. Doch für den 69-Jährigen hat das Leben jede Leichtigkeit verloren. Er will da sein für seine Frau. Aber er merkt auch, dass er an seine Grenzen kommt.

März 2010 Vor zwei Tagen war Ilse Schöner zum ersten Mal dabei: Bei der Walkinggruppe des Alpenvereins. „Ich geh halt“, sagt sie langsam, „hinterher.“ Aber ganz offensichtlich ist sie stolz auf diese Pioniertat. Es gibt kaum noch Dinge, die sie zum ersten Mal macht. Ihr Leben besteht eher aus vielen Abschieden. Rainer Schöner, ein drahtiger sportlicher Mann („Ich lauf denen davon“), hat seine Frau mitgenommen. Sie ist schwerfällig und langsam geworden. Auch die Erinnerung an Bewegungsabläufe lässt nach, die Koordination klappt nicht mehr so gut. Früher sind sie zusammen gejoggt und leidenschaftlich gern Rad gefahren. Sie waren auf Sylt, am Bodensee, bis nach Nürnberg sind sie mit dem Rad gefahren. Das gehört seit einem Jahr der Vergangenheit an. Er wollte es nicht wahrhaben, hat das Rad gehalten, sie angeschoben, hat sie losgeschickt wie ein Kind. Doch sie konnte das Gleichgewicht nicht halten, wusste nicht mehr, wie man die Pedale tritt und Schwung gewinnt. Sie ist umgefallen. Die Schöners hoffen, dass es mit dem Gehen noch eine Weile geht.

Manchmal wird Ilse Schöner jetzt ungeduldig, wenn etwas nicht mehr auf Anhieb klappt und ihr Mann insistiert. Sie lacht nicht mehr viel. Wenn sie im Auto sitzen und er verzweifelt gegen die Stille kämpft und sie bittet: „Sprich mit mir“, dann sagt sie nur: „Ich hab doch nichts zu erzählen“, und verstummt. Es gibt immer mehr schlechte Tage. Traurige Tage. Die Depression greift nach ihr.

Kampf um Selbstständigkeit und die Würde

An diesem Morgen im März 2010 hat sie sich Zahnpasta ins Gesicht statt auf die Zahnbürste geschmiert. Sie weint, er versucht, sie zu trösten: „Geh weg“, sagt sie und stößt ihn weg, „nicht trösten. Ich weiß, ich muss da durch.“ Manchmal hat sie Zweifel, ob sie bei all diesen kleinen Niederlagen im Kampf um Selbstständigkeit und Würde eine Zeugin dabeihaben will. Eine Fremde. Eine Reporterin. Er hat ihr wieder erklärt, warum das wichtig ist: damit ein Tabu gebrochen wird. Damit die Leute wissen, dass es diese Krankheit gibt, und damit sie lernen, damit umzugehen. Und dass es Hilfe und Unterstützung gibt für die pflegenden Angehörigen. Eine Gesellschaft muss sich darauf einstellen, dass immer mehr Menschen immer älter werden und damit auch die Zahl der Dementen und Alzheimerkranken steigt. Rainer Schöner kämpft an vielen Fronten, auch denen der Bürokratie, der Pflegestufe, der Ärzte, der Windeln, des Geldes. „Es ist wie mit der Flut in Pakistan“, hat er seiner Frau erklärt. „Wenn keiner darüber berichtet, wird auch nicht geholfen.“ Das hat Ilse Schöner, die sich immer für andere eingesetzt hat, eingesehen. Doch mit dem Fortschreiten der Krankheit wächst auch ihr Misstrauen.

Heute wird „Sturm der Liebe“ aufgenommen. Heute ist Donnerstag, das ist Ilse Schöners Spieletag im Johanniterstift in Plochingen. Sie geht nicht so gern hin, sie merkt, dass ihr Mann diese Zeit gern für sich nutzt und fühlt sich abgeschoben. Doch für Rainer Schöner ist es eine Zeit, in der er Dinge erledigen kann. Und manchmal geht er einfach zur Entspannung in die Sauna. Es ist gestohlene, kostbare Zeit, wie die wenigen Minuten Seifenoper täglich, in der er sie vor dem Fernseher weiß.

Nun sitzt Ilse Schöner vor dem „Mensch ärgere Dich nicht“-Brett mit vier anderen Alten und summt vor sich hin. Es ist die Melodie vom Nachbartisch, wo ein Ziehharmonikaspieler „Mein Vater war ein Wandersmann“ und „Im Frühtau zu Berge“ intoniert. Ilse Schöner ist vergnügt. Die Frühlingssonne macht den Raum hell, auf den Tischen stehen bunte Tulpensträuße. Manche Alte singen laut mit, andere trinken Kaffee, an vielen Tischen wird gespielt. Binokel, aber meist „Mensch ärgere Dich nicht“. Ilse Schöner schaut lächelnd in die Runde. „Sie sind dran, Frau Schöner“, fordert sie die Betreuerin auf. Und Ilse Schöner würfelt folgsam. Doch was dann zu tun ist, versteht sie nicht mehr. Mal geht sie mit den eigenen roten Figuren, mal mit den fremden grünen und manchmal mit dem Würfel. Mal geht sie vorwärts, mal rückwärts. Vergessen das Kinderspiel, das sie unzählige Male mit Kindern und Enkelkindern gespielt hat. Noch ein Verlust.

„Ich bring Sie raus“, sagt Ilse Schöner zum Abschied, als wäre sie hier die Gastgeberin einer Familienfeier. Und etwas erleichtert, dass die Gäste endlich gehen.

April 2010 Heute hat Ilse Schöner was Besonderes vor. „Damenkränzle“, sagt sie. Immer öfter ist es nur ein Wort, das sie so dahinwirft und hofft, dass es verstanden wird. „Ja, so sag ich immer“, erklärt Rainer Schöner, „dort bei der Gymnastik sind lauter Frauen über 60 Jahre.“ Ilse Schöner nickt. Längst kann sie nicht mehr alles mitmachen, doch die Frauen im Turnverein haben sie in ihrem Kreis aufgenommen und sie bewegt sich dort, so gut sie kann.

Vorher schaut sie noch fern. „Ich habe längst den Faden verloren bei ‚Sturm der Liebe‘ “, sagt Rainer Schöner. „Dann“, sagt Ilse Schöner langsam, „fragt. Er.“ – „Und ich bin nicht immer zufrieden mit dem, was du mir erzählst.“ Ilse Schöner senkt den Blick. Es ist ihr peinlich, dass sie nicht mehr alles so klar erklären kann. Das Leben ist ihr zu schnell geworden. Sogar die Soap überfordert sie manchmal. Die Namen der Protagonisten hat sie inzwischen vergessen, aber sie weiß noch, wer zu den Guten gehört und wer zu den Bösen. Ilse Schöner wendet kein Auge vom Bildschirm, im Arm hält sie ein Sofakissen, „Sturm der Liebe“, Teil 1060, im April 2010. Sie wird nicht mehr lange folgen können. Das Verständnis bröckelt.

Rainer Schöner plant derweil den Urlaub in Überlingen. Akribisch, wie es seine Art ist. Immer hat er alles ordentlich geplant in seinem Leben, seine Karriere, seine Familie, seinen Tag, der hagere Mann mit den blauen Augen mag es ordentlich und übersichtlich. Doch wenn die kleine private Welt auseinanderbricht, gibt es keinen Plan mehr. Jetzt muss er viel improvisieren, weil nichts bleibt und sich alles jeden Tag ändern kann. Rainer Schöner entwickelt sich zum Experten in Sachen Alzheimer. Er hat einen Vortrag über dieses neue Wissen gehalten, es war eine Veranstaltung in der Nachbarstadt im Rahmen der Demenzoffensive 2010–2011 der Stadt Esslingen. Das hat ihm gut getan – und Schwung gegeben für die Vorbereitung des Pfingsturlaubs am Bodensee.

Er hat in Überlingen angerufen, gefragt, wo die Behindertenklos sind und wohin er den Windelmüll entsorgen kann. Später, im Mai, wird er am Telefon erzählen, wie schwierig alles war. Dass seine Frau auch am dritten Tag noch nicht wusste, wo die Toilette zu finden war. Und dass er sie einmal überfordert hat mit einer Wanderung, die sie körperlich kaum mehr durchgestanden hat. „Es wird wohl keinen gemeinsamen Urlaub mehr geben“, sagt Rainer Schöner. Wieder ein kleiner Abschied. Einer von vielen.

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