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NEW YORK IMAGINÄRFitness im Wedding

Plötzlich scheint alles ziemlich urban zu sein

Manchmal, wenn es besonders schlimm ist, stelle ich mir vor, ich sei in New York. Ich war bisher nur im New York der Filme, Bücher und der Songs. Und doch ist das Bild der Stadt so lebendig, als hätte ich große Teile meines Lebens dort verbracht. Wenn also der Himmel grau ist, die Müllerstraße Flaniermeile gescheiterter Existenzen, die gesenkten Kopfes zwischen Schnäppchenmarkt und Importgemüse herumschleichen; da und dort jemand eine Flasche mit Pfand aus dem Mülleimer zieht oder aus der Welt gefallen herumschreit, werfe ich den Generator in meinem Kopf an, der mich in die imaginäre Parallelwelt beamt. Sssssrt! Ich spaziere durch einen abgeranzten und der Gentrifizierung erst in, sagen wir, zwanzig Jahren anheim fallenden Teil New Yorks, irgendwann in den 70er Jahren. Plötzlich erscheint das, was eben noch piefig und desillusionierend war, urban.

Der Besitzer des Schlüsselgeschäftes Börkey grüßt nachbarschaftlich aus dem Türrahmen. Willkommen in Paul Austers „Smoke“. Die Woody-Allen-Maschine in meinem Kopf, die eigentlich nie stillsteht, speit passende Gedanken aus. Oben, im dritten Stock über dem Zebrastreifen, schwebt der Hort der Fitness. Hinter der spiegelnden Glasfassade wird ebenfalls an imaginären Formen gearbeitet. „Sport?! Ich halte mich durch regelmäßige Panikattacken fit!“, heißt es in einem Allen-Film, und so halte ich Sport-Antichrist es nur in „meinem New York“ das Frauenfitnessstudio aus. In der mahagonifarbenen Umkleide streifen Frauen Kopftücher ab und Frisuren kommen zum Vorschein. Eine Gruppe knackig-junger Mädchen trägt ihre neonfarbenen Sneakers in den Kraftraum. Aus den Boxen an der Decke plumpst HipHop. Eine korpulente schwarze Lady müht sich zu den Bässen am Bauchtrainer. Zaghaft stelle ich die Gewichte meines Gerätes von 50 auf 35 Pfund. New York. Stark bin ich trotzdem nicht geworden.KIRSTEN REINHARDT

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