LESERINNENBRIEFE :
Taktisches Lavieren
■ betr.: „Oranienplatz. Der Geist ist maßgeblich“, taz vom 3. 9. 14
Innensenator Henkel hat mit seinem taktischen Lavieren in der Flüchtlingsfrage jede politische Glaubwürdigkeit verloren.
Als im Mai elf Afrikaner vor der Gedächtniskirche eine Mahnwache abhielten, um für ein Bleiberecht zu demonstrieren, verfügte der Innensenator nach mehreren Tagen überfallartig die Räumung. Anschließend musste er sich vom Gemeindepfarrer öffentlich vorwerfen lassen, er habe gegen die Zusicherung verstoßen, keine überraschenden Aktionen zu unternehmen und den Raum für vertrauensbildende Gespräche zu gewähren. Henkels Glaubwürdigkeit war beschädigt.
Doch statt aus diesem Fehler zu lernen, kommt es nun mit dem Verhalten gegenüber den Flüchtlingen vom Oranienplatz sogar zu einer dramatischen Steigerung und damit zum endgültigen Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit. Henkels Anliegen (und das des gesamten Senats) war es, die Flüchtlinge zur Aufgabe ihres eineinhalbjährigen (!) Protestcamps zu veranlassen. Zu diesem Zweck dienten die Verhandlungen, mit denen der Senat die Integrationssenatorin beauftragt hatte. Ergebnis war Ende März das „Einigungspapier Oranienplatz“: Nach dessen Nr. 3 stellte die Senatorin in Aussicht, die Kernanliegen der Flüchtlinge zu unterstützen und deren politische Forderungen in die Gremien im Land Berlin, auf die Bundesebene und nach Europa zu tragen.
Nach Nr. 4 sollte eine umfassende Einzelfallprüfung im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten stattfinden (Aufenthaltsgenehmigung, Umverteilung etc.) und für diese Zeit die Abschiebung ausgesetzt werden. Ferner wurde die Einrichtung eines „Unterstützerpools“ durch die Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie und die Integrationsbeauftragte angekündigt; und nach Nr. 5 waren der Zugang zu Deutschkursen, die Anerkennung der beruflichen Kompetenzen und Beratungen zur beruflichen Entwicklung sowie der Zugang zur Berufsbildung, zum Studium und zum Arbeitsmarkt vorgesehen.
Am 8. April räumten die Flüchtlinge vereinbarungsgemäß das Lager und bezogen vom Senat bereitgestellte Unterkünfte. Am 26. August wurden sodann ohne jede Vorwarnung mehr als 100 betroffene Flüchtlinge regelrecht auf die Straße gesetzt: Die Prüfung sei abgeschlossen, Sozialleistungen würden mit sofortiger Wirkung eingestellt. Zu Recht kritisierte der Berliner Flüchtlingsrat dieses für alle Beteiligten unerwartete und geradezu überfallartige Vorgehen seitens des Senats als willkürlich, intransparent, menschenverachtend und auch rechtswidrig. Die Ablehnungsquote von 100 Prozent verstoße gegen den Geist der mit Senatorin Kolat ausgehandelten Oranienplatz-Vereinbarung, die eine wohlwollende Prüfung von Umverteilungsmöglichkeiten nach Berlin und humanitärer Aufenthaltserteilung vorsehe.
Der Versuch einer Rechtfertigung für dieses Vorgehen mittels des Gutachtens von Prof. Hailbronner ist geradezu abwegig. Die darin aufgestellte Behauptung, das Einigungspapier sei aus formalen Gründen unwirksam, weil es die dafür fachlich unzuständige Senatorin unterzeichnet habe, beruht offenbar ausschließlich auf einer gezielten Fehlinformation durch die Innenverwaltung selbst; denn anders hätte der Gutachter nicht zu dem Ergebnis kommen können, eine unmittelbare Einbeziehung der Berliner Innenverwaltung bzw. des zuständigen Senators für Inneres und Sport und der für den Vollzug zuständigen Ausländerbehörde habe in keinem Stadium der Verhandlungen stattgefunden. Offenbar ist ja gerade das Gegenteil der Fall, da – wie aus dem Hause von Senatorin Kolat verlautet – jedes Wort im Einigungspapier in Chefgesprächen mit Senator Henkel abgestimmt war. Dieser hatte auch seinen Sprecher nach Abschluss der Verhandlungen gegenüber der Presse ausdrücklich erklären lassen, die Innenverwaltung werde sich „in jedem Detail“ an die Abmachung halten.
Unabhängig davon, ob es sich dabei um einen beiderseitigen Vertrag, eine einseitige Verpflichtung des Senats (Gutachten Prof. Fischer-Lescano) oder „nur“ um eine politische Absichtserklärung im Rahmen einer konsensualen Konfliktbewältigung (Gutachten Prof. Hailbronner) handelt: Zur Glaubwürdigkeit eines Politikers gehört es essenziell, dass er zu seinem Wort steht. Wer diesen Grundsatz mehrfach schwerwiegend verletzt, sollte sich schnellstmöglich aus der Politik zurückziehen. PERCY MACLEAN, Berlin
Kommt alle her!
■ betr.: „Flüchtlinge. Berlin stoppt Aufnahme“, taz vom 4. 9. 14
Ich kann es nicht mehr hören, wenn – durchaus auch links gesinnte – Menschen angesichts des sich abspielenden Flüchtlingsdramas den Satz aussprechen: „Aber wir können doch auch nicht alle aufnehmen“ (meist begleitet von hilflosem Schulterzucken).
Was erwarten wir eigentlich angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit und Ungleichverteilung in unserer Welt? Dass die Menschen stillhalten, weiterhin unter unmenschlichen Bedingungen unsere Klamotten nähen, unseren Kaffee anbauen, unsere Rosen züchten!? Dass das Verhältnis zwischen Arm und Reich das einzige revolutionäre Element in der Welt ist, wusste Georg Büchner schon 1835 … Ich würde am liebsten rufen: Kommt alle her! Zeigt uns, dass es so nicht weitergehen kann! Ich wünschte, ich hätte den Mut, mit den Flüchtlingen auf dem Dach zu sitzen anstatt meinem normalen Tagesablauf nachzugehen! Und ich schäme mich für große Teile unserer Landesregierung!
MARION KLEIN, Berlin
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