piwik no script img

In GefahrVerluste

Die Nachbarin nahm den Verlust sportlich

Am helllichten Tag wurde das Fahrrad des Sohnes meiner Nachbarn aus dem Hof geklaut. Als er von der Schule zurückkam, erinnerte nur noch das durchgeschnittene Schloss daran, dass er mal ein cooles Rad hatte. Tränen standen ihm in den Augen. Die Mutter sprach mit ihrer Versicherung und ging mit ihm ein neues Rad kaufen.

Netterweise überließ sie mir in der Zwischenzeit ihre Monatskarte. Ich wollte schnell zum Kaufhof am Alex. Als ich zurückkam, hielt ich mit den zwei kleinen Schwestern aus dem Erdgeschoss einen Plausch. Die Monatskarte hielt ich dabei in der Hand. Vergesslich wie ich bin, hatte ich Angst, ich würde sonst nicht daran denken, sie zurückzugeben. Als ich auf dem Weg zu meiner Wohnung war, hielt ich in der zweiten Etage irritiert inne. Hä, wo war denn die Monatskarte, die ich eben noch in der Hand hatte? Ich durchsuchte meine Hosentaschen, das Portemonnaie, alles. Umsonst.

Ich ging wieder runter in den Hof. Die Kinder halfen mir beim Suchen. Die Karte blieb verschwunden. Ein Junge fragte, was denn eine Monatskarte kostet, und bot mir zwei Euro an. Wirklich freuen konnte ich mich nicht darüber. Erst das Rad und nun das. Ich verstand die Welt nicht mehr.

In meiner Wohnung leerte ich fieberhaft meine Tasche. Die Verzweiflung war so groß, dass ich auch in Schuhen und Strümpfen, im Kühlschrank und im Mülleimer suchte. Die Monatskarte hatte sich in Luft aufgelöst. Die Nachbarin nahm den Verlust zum Glück sportlich und fährt seitdem nur noch mit dem Rad.

Am nächsten Tag stolperte ich auf dem Weg zur U-Bahn über einen Schriftzug mit blauer Kreide, den jemand über Nacht am Eingang zur Station Frankfurter Tor hinterlassen hatte. „Die Republik ist in Gefahr.“ So weit würde ich zwar nicht gehen. Aber es war ein hübsch auf den Punkt gebrachter Satz.

BARBARA BOLLWAHN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen