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Ein Geisterleben

Sie leben ein Schattenleben. Sie haben viele Namen: Papierlose. Illegale. Menschen ohne legalen Aufenthalt. Wer keine Papiere hat, macht sich lieber unsichtbar. Ist anpassungsfähig wie ein Chamäleon. Nur nicht auffallen. Mit einem Illegalen unterwegs in der Landeshauptstadt

von Susanne Stiefel

Wer mit Yassin durch Stuttgart geht, sieht die Stadt mit anderen Augen. Die Königstraße, Stuttgarts Einkaufsmeile, ist für ihn eine Fußgängerzone, in der er nur in der Mitte gehen darf. Links oder rechts an den Schaufenstern entlangzuschlendern, das wäre zu gefährlich. Links oder rechts, das ist für die anderen, die Sichtbaren, die Legalen. Denn links oder rechts, im Menschenstrom, kontrollieren auch die Polizisten. Yassin, der in seinem illegalen Leben anders heißt, geht in der Mitte. Dort, wo die Bäume stehen und immer mal wieder ein Kiosk den Weg versperrt oder ein Café-Tischchen. In der Mitte, so seine Erfahrung, fällt man nicht auf. Und auffallen darf man auf keinen Fall, wenn man ein Papierloser ist.

„Sehen Sie den Mann dort, der dort an der Mauer entlangschleicht?“, fragt der 35-jährige Algerier. Wer lernt, mit Yassins Augen zu sehen, merkt sofort: Dieser Mann dort drüben ist viel zu auffällig in seinem Bemühen, unsichtbar zu sein, zu dicht an den Schaufenstern, zu sichernd der Blick. Yassin hingegen beherrscht die Gesetze der Unauffälligkeit bestens, er lebt schon seit 15 Jahren ohne Papiere in Stuttgart. Im KZ, hat ihm mal einer erzählt, wurden die aussortiert, die aufgefallen sind. Also ist er nicht zu laut und nicht zu leise. Nicht zu aufmüpfig und nicht zu demütig. Nicht zu groß und nicht zu klein. Er ist unauffällig bis zur Unkenntlichkeit. „Ich bin ein Geist“, sagt der junge Mann und verzieht den Mund. Es ist wohl ein Lächeln. Geisterstunde in Stuttgart.

Ein Papier hat der Illegale immer bei sich: den Fahrschein

Eigentlich hat man sich Geister immer anders vorgestellt. Der Mann, der sich nach einem vergewissernden Handy-Anruf an den Tisch im Café Scholz setzt, ist auf den ersten Blick ein fröhlicher junger Mann, der auch aus Waiblingen kommen könnte. Das Gesicht glattrasiert, der Kopf mit modisch kurzen Stoppeln, die Zähne blendend weiß wie das T-Shirt. Der ganze Mensch wirkt wie frisch gebügelt. „Ich gehe nie unrasiert oder mit zerknitterten Jeans aus dem Haus“, sagt Yassin und bestellt einen Cappuccino. Lektion eins im Untergrund: Wer ungebügelt ist, wird kontrolliert. Keine Frage, dass dieser Mann perfekt Deutsch spricht. Er redet schnell, er redet viel, es geht schließlich um sein Leben nach dem Motto: Ich rede, also bin ich. Wer ist man schon als Geist? Wie groß ist die Gefahr, sich selbst zu verlieren im grauen Mittelmaß, das man braucht, um nicht aufzufliegen?

Es gibt Orte, die Yassin meidet. Bad Cannstatt – zu viele Ausländer. Der Marienplatz in Stuttgarts Süden – zu viele Rumhänger. An diesen Orten, das weiß er, gibt es zu oft Schlägereien. Patrouilliert zu viel Polizei. Yassin hat gelernt, bei Kontrollen ruhig zu bleiben. Und natürlich ist er noch nie in seinem Schattenleben schwarzgefahren. Yassin hat immer einen Fahrschein. Wenn er in der U-Bahn sitzt, greift er fast reflexartig zu seiner Brieftasche, um zu kontrollieren, ob das Ticket auch drin steckt, das er gerade gekauft hat, griffbereit. Wer keine Papiere hat, hat immer einen Fahrschein. Noch so eine Überlebensweisheit aus dem Untergrund. Noch nie ist Yassin bei Rot über eine Ampel gegangen.

In Deutschland, so Schätzungen, leben 500.000 bis über eine Million Menschen ohne gültigen Aufenthalt, wie das in der Amtssprache korrekt heißt. Sie dürfen nicht krank werden, weil der Arzt nach Papieren fragt. Ihre Kinder können keine Schule besuchen, weil sie dort erfasst werden könnten. Sie haben keinen Arbeitsschutz, wenn sie um ihren eh schon mageren Verdienst betrogen werden. Sie führen ein Schattendasein ohne Grundrechte. In Frankreich, Spanien oder Italien gibt es immer wieder eine Amnestie, die aus illegal lebenden Geistern Menschen mit Aufenthaltserlaubnis macht. In Deutschland nicht. Hier gilt: Ordnungsrecht vor Menschenrecht. Auch in Stuttgart leben viele Menschen ohne Papiere. Zahlen nennt keiner der im „Arbeitskreis xy“ zusammengeschlossenen Initiativen. Sie leben in einer Zwischenwelt. Verschmolzen mit ihrer Umgebung. Anpassungsfähig wie ein Chamäleon. Manchmal weiß Yassin nicht mehr, wer er eigentlich ist. Manchmal hilft es, sich zu erinnern, woher er kommt.

Yassin war 21, als er es in Algerien nicht mehr aushielt. Das Volk war eine Geisel, gefangen in der Zange aus Islamisten auf der einen und Militärs auf der anderen Seite. „Viele meiner Freunde, Bekannten und Nachbarn wurden einfach abgeschlachtet“, sagt Yassin. Er zupft sich am Hals, während er von den Gräueln erzählt. Davon, wie die islamistischen Terroristen in sein Viertel in der Küstenstadt Oran einfielen, mit ihren Listen, auf denen die Todeskandidaten standen. Wie sie den Taxifahrer im Haus nebenan mitnahmen, der sich erdreistet hatte, auch Polizisten zu fahren. Wie man ihn fand, mit durchschnittener Kehle, wie so viele andere, die den Unmut der Islamisten erweckt hatten, ohne zu wissen, warum. Wer die falsche Bräune hatte, diesen charakteristischen Hemdausschnitt, der auf Militär schließen ließ, konnte bei einer Straßensperre der Terroristen mit aufgeschlitzter Kehle enden. Wer als junger Mann arglos im Taxi saß, konnte bei einer Straßensperre der Polizei rausgezerrt und in Militäruniform gesteckt werden. „Früher hab ich noch mehr am Hals gezupft“, sagt Yassin. Die Bilder der klaffenden Kehlen verfolgten ihn bis in seine Träume.

Nach dem Abitur lag er seiner Mutter in den Ohren, dass er rauswolle aus Algerien. Sie zahlte ihm eine Schiffsüberfahrt nach Italien, gab ihm Geld mit und als eiserne Reserve einen goldenen Ring. Er ruft regelmäßig bei ihr in Oran an. „Niemals würde ich ihn verkaufen“, sagt Yassin, „das ist viel mehr als Gold, das ist ein Stück Heimat.“ Er will den Ring abziehen, um den Stempel zu zeigen. Der Ring klebt am Finger, als sei er damit verwachsen. Yassin zuckt die Schultern. Sein Blick richtet sich auf den Nachbartisch, die Straße, den Marktplatz. Es ist ein wachsamer Blick, dem nichts entgeht.

Es ist anstrengend, grau zu sein

Die Frühlingssonne bringt die Kappen der bunten Eisbecher zum Schmelzen, an allen Tischen am Stuttgarter Marktplatz sitzen entspannte Menschen, die die unerwartete Wärme genießen. An fast allen Tischen. Yassin weiß nicht mehr, was das heißt, Entspannung. Während er redet, scannt sein Blick unauffällig die Umgebung. Er registriert jeden Neuankömmling, jedes vorbeiflitzende Fahrrad, jede Bewegung. Misstrauen und Vorsicht haben sich wie eine zweite Haut über den Mann aus Algerien gelegt. Manchmal wünscht er sich auch im Rücken Augen. Dann nimmt er seine Sonnenbrille ab und betrachtet sie, als prüfe er ihre Sauberkeit. So sieht er, was hinter ihm passiert. Manchmal zittert die dauernde Anspannung in seinen Händen nach, wenn sie mal ruhig auf dem Tisch liegen. Es ist anstrengend, grau zu sein.

Und ungesund. Als er die Sonnenbrille abnimmt, sieht man, dass seine Nase krumm ist. Es war eine Rauferei unter Freunden, erzählt er, sie waren betrunken. „Ich hätte gleich zwei Löffelstiele reinstecken müssen, damit das gerade zusammenwächst“, sagt Yassin und lächelt schief. Er kuriert sich selbst. Ein Arzt ist teuer und will zu viel wissen. Der Mann, der in Algerien nie genug davon bekommen konnte, hat aufgehört, Fußball zu spielen, zu groß ist die Verletzungsgefahr. Jetzt geht er Joggen. Im Jahr der Vogelgrippe, als ganz Deutschland in Panik vor dem H5N1-Virus war, hat ausgerechnet er, der nie krank werden durfte, sich ein Grippevirus eingefangen. Und die Panik hat auch ihn erfasst, als das Fieber immer weiter stieg. Yassin, der Mann, der den Bürgerkrieg in Algerien überlebt hat, wollte nicht in Deutschland an einem Virus sterben. Ein Freund besorgte ihm Tamiflu. „Ich hab mich wohl reingesteigert“, sagt er heute aus der Distanz. Das Leben in der Illegalität fordert seinen Tribut.

Im Winter schippt Yassin Schnee, im Sommer spült er und schnippelt und putzt. Er verdient einen Bruchteil der Legalen. Und wenn ihm ein Arbeitgeber den Lohn schuldig bleibt, kann er sich nur empören. Manchmal bringt es ihn fast um, dass er nichts machen kann. Dass er nie nach vorne gehen kann, in die Offensive, sondern immer nur zur Seite, immer wieder zurück. Erst vor kurzem kam ihm ein betrunkener Mann entgegen. „Was gugsch du?“, brüllte der. Yassin hatte nicht geguckt, er blieb stehen, wollte reden. Der Freund des Betrunken winkte ihm, weiterzugehen. „Und ich bin weitergegangen wie ein guter, braver Feigling“, sagt er. Oder wie ein guter, braver Geist.

Ein Geisterleben ist schlecht für die Liebe, denn es verbrennt die Seele. Fünf Jahre lang hat Yassin mit Nadja zusammengelebt, seiner Freundin aus dem ehemaligen Jugoslawien. Noch nie hat er länger an einem Ort gelebt. Noch nie hat er in der Fremde einen Menschen näher an sich rangelassen. Vielleicht hätte die Beziehung gehalten, wenn sie nicht nach der Uhr hätten streiten müssen. Wenn sie nach Mitternacht nicht Angst gehabt hätte, dass jemand die Polizei holt, wenn es lauter würde. Vieles blieb ungesagt. „Jedes Paar sollte das Recht haben, mindestens 15 Mal im Jahr zu streiten“, sagt Yassin.

Yassin hat bei Freunden gewohnt, bei Freundinnen, er ist so oft untergeschlüpft, dass er die Wechsel schon lange nicht mehr zählt. Und so hat sich in den 15 Jahren Deutschland nicht mehr angesammelt, als in einen Koffer passt. Geister haben keinen Besitz.

Ein Buch hat er bei allen Umzügen mitgenommen. Ein Buch, das er liebt, weil der Autor Albert Camus aus seiner Heimatstadt Oran kommt. Es ist „Der Fremde“.

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