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Vergängliche Klippen

„Faszination Steilküste“: Das niedersächsische Landesmuseum Hannover zeigt eine interdisziplinäre Schau, die zu jedem Bild eine kunsthistorische Deutung samt Gesteinsanalyse bietet. Das beantwortet keine Stilfragen, ermuntert aber zur Reflexion über Eis- und Kreidezeiten

VON PETRA SCHELLEN

Natürlich haben sie das Spektakuläre gesucht. Das war ihr gutes Recht, und damit standen sie nicht allein: In Europa und Amerika zogen im 19. Jahrhundert die Maler aus, um die Natur ihrer Heimat live und draußen zu erkunden. Meist taten sie es, um die Schönheit ihres Landes zu dokumentieren. Um in Zeiten der Verstädterung unberührte Natur zu finden oder – unter Weglassung der real existierenden Touristen – zumindest zu malen. Aber auch, um Identität in Zeiten zu stiften, in denen es außenpolitische Niederlagen gab.

Eine solche Ersatzbefriedigung in puncto Heimatbindung bildet das Gemälde „Kreidefelsen auf der Insel Møn“ des Dänen Frederik Sødring. Das niedersächsische Landesmuseum Hannover hat das Werk jüngst erworben und zum Ausgangspunkt einer interdisziplinären Ausstellung gemacht. „Faszination Steilküste“ heißt die Schau, die in chronologischer Folge Gemälde des 19. Jahrhunderts zeigt und ein erd-, und stilgeschichtliches Panorama aufblättert.

Mit skandinavischen nationalromantischen Gemälden Frederik Sødrings und des Norwegers Hans Fredrik Gude beginnt der Parcours, wobei die Gesteinsanalyse bei dem Møn-Bild leichter fiel als bei der schwer zu ortenden norwegischen Landschaft. „Ich habe hier keine exakte Analyse vorgenommen, sondern im Katalog lediglich die Entstehung Norwegens beschrieben“, sagt die Paläontologin Ute Richter, die die Schau gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Annette Weisner konzipiert hat.

Das genügt wohl auch: Denn Gude ging es weniger um den exakten Ort, als um die Darstellung der erhaben-schroffen norwegischen Natur. Von einem idealisierenden Werk wie diesem ist es ein kleiner Schritt zu August Wilhelm Ferdinand Schirmers „Küste von Capri“. Er hat eine idyllische Felsküste gemalt. Das verwundert nicht, war er doch zunächst Porzellanmaler und schuf später im höfischen Auftrag arkadische Phantasielandschaften. Aus realistischen Details ist dagegen Wilhelm Ahlborns „Küstenlandschaft am Golf von Neapel“ montiert: Einen so nicht existierenden Panoramablick von Ischia auf den Vesuv führt er vor, ergänzt um Felsformationen aus anderen Teilen der Insel.

Und wenn auch das Motiv „Steilküste“ eher zufällig für diese Ausstellung gewählt wurde, offenbart sie doch ein damals virulentes Problem: den Kampf zwischen denen, die im Atelier Ideallandschaften komponierten, und den Anhängern einer exakten Wiedergabe. Für Maler einer Zeit, in der die Naturwissenschaften erstarkten, ohne dass man sich von Romantizismen sofort lösen mochte, ein Dilemma. Denn eigentlich verträgt es sich nicht, Felsformationen zwar exakt nachzubilden, sie dann aber unbekümmert zu einer Ideallandschaft zusammenzusetzen.

„Etliche Maler des 19. Jahrhunderts haben sich für den naturwissenschaftlichen Zugang interessiert“, sagt Ute Richter zwar. Doch letztlich war diese Akkuratesse bloß Vehikel der Komposition. Anselm Feuerbach etwa suchte schlicht Kulissen für seine arkadischen Gemälde und weniger geologische Genauigkeit. Um streng „dokumentarische“ Maler zu präsentieren, hätte man die Schau konsequent mit Werken des beginnenden 19. Jahrhunderts bestücken müssen.

Doch das Ziel der Ausstellungsmacher ist ein anderes: Man will ideengeschichtliche Strömungen präsentieren – und ganz nebenbei Datierungen und geographische Zuordnungen korrigieren. Denn Feuerbach hat auf dem hier gezeigten Bild nicht, wie bisher vermutet, ein Felsentor in Anzio porträtiert. In Anzio gibt es gar keins. Ein Faktum, das die Forschung bislang übersah, weil Feuerbach in Anzio doch so viele Werke schuf. Das in Hannover präsentierte Felsentor steht aber in der Normandie – in Etretat. Und dass Feuerbach die Kreidefelsen zu klein und außerdem gelb malte, deutet laut Ute Richter darauf hin, dass er das Motiv einer Postkarte entnahm.

Daneben finden sich in Hannover Gemälde von Alfred Sisley und Auguste Renoir. An der walisischen Küste hat Sisley seine türkisgrüne Strandlinie gemalt. Im Hintergrund ein Boot, das das diagonal komponierte Bild ausbalanciert. „Bezüglich der Farben ist Sisley sehr exakt. Die Steine am Strand bei Penarth schimmern tatsächlich türkis“, sagt Ute Richter. Und das Schiff sei eindeutig ein Kohledampfer: „In der benachbarten Bucht von Swansea wird bis heute Kohle abgebaut.“

Eine aus kunsthistorischer Sicht ungewohnt pragmatischer Zugang zu den Bildern, der zunächst irritiert, dann aber den Blick weitet: für den im 19. Jahrhundert neu entdeckten wissenschaftlichen Zugang zu Natur. Nur, dass sich die Hannoversche Schau nicht auf die von Wissenschaftsbegeisterung geprägte Epoche beschränkt, sondern auch Maler zeigt, die abstrakt-typisierte Landschaft zeigen und für die geologische Akkuratesse kein Kriterium war. Doch auch zu den impressionistischen Gemälden bietet die Schau geologische Analysen sowie Gesteinsproben in Vitrinen.

Neu ist dieser Zugang nicht – und sein Erkenntnisgewinn für die Deutung der Bilder gering. Für das Verständnis von Erdgeschichte eignet sich ein solcher Ansatz dagegen gut. Warum die Schau also nicht als Anlass für eine Reflexion des Phänomens Steilküste nutzen: Einer Felsformation, die sich durch Witterung und Brandung permanent verändert und irgendwann verschwinden wird. Wobei Kreidefelsen überdies schneller vom kohlendioxidhaltigen Regenwasser ausgewaschen werden als andere Gesteine.

Letztlich sind Steilküsten also Metaphern für die Vergänglichkeit von Natur: „Alle Versuche, etwa die Felsentore in der Normandie – als Touristenattraktion durchaus ein Wirtschaftsfaktor – durch Klammern oder Betonmäntel zu erhalten, fruchten wenig“, sagt Ute Richter. „Die Konstruktionen halten meist nicht lange.“ Die Paläontologin spricht aus, was auch auf Helgoland und Sylt niemand wahrhaben will: „Man kann solche Vorgänge verzögern. Stoppen kann man sie nicht.“

Wenn man außerdem bedenkt, dass etliche Steilküsten einst den Meeresgrund bildeten, weil die Polkappen während der Kreidezeit abgeschmolzen waren, dann kann man diese kunst- und erdgeschichtliche Retrospektive fast als Zukunftsszenario begreifen.

Die Ausstellung ist bis 17.6. zu sehen

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