piwik no script img

Aufgeflogen

Fünfzehn Jahre lang lebt Yassin nun ohne Papiere in Stuttgart. Das Leben im Untergrund hat den 35-Jährigen geprägt. Wenn Vorsicht und Misstrauen zur zweiten Haut geworden sind, werden Entspannung und Zuversicht zu Fremdwörtern. Nun ist Yassin trotz aller Vorsicht aufgeflogen. Ihm droht die Abschiebung nach Algerien. Zweiter Teil der Reportage

von Susanne Stiefel

Es passierte an einem Ort, den er sonst meidet. Wie jeden Ort, an dem die Häufigkeit der Passkontrollen mit der Anzahl der Ausländer wächst. An jenem Tag war Yassin leichtsinnigerweise mit einem Freund am Stuttgarter Marienplatz verabredet, als die Polizei zu einem Diebstahl gerufen wurde. Yassin, der dreimal die Woche joggt und jedem davonläuft, wenn es sein muss, hatte keine Chance: Die Kontrolleure standen am Ausgang der U-Bahn. Yassin hatte einen Fahrschein, aber er hatte keine Papiere. Sie nahmen seine Personalien auf, sie erkannten, dass der Algerier vor 15 Jahren in Karlsruhe einen Asylantrag gestellt hatte und dann untergetaucht war. Warum das so war, wussten sie nicht. Seit damals jedoch lebt Yassin (Name geändert) in der Angst, abgeschoben zu werden.

Yassin ist ein Illegaler, auch wenn das heute keiner mehr so nennen will. Weil der Mann mit dem hellen Teint nicht aussieht wie ein Araber, weil er nahezu perfekt Deutsch spricht, schwimmt er in Stuttgart mit wie ein Fisch im Wasser. Und auch sonst fällt Yassin nicht auf in seinen gebügelten Jeans und seinem sauberen T-Shirt. Er ist ein Geist, der in einer Zwischenwelt lebt, bemüht, unauffällig zu bleiben, unsichtbar zu werden. Yassin ist ein Lebenskünstler, ein Überlebenskünstler mit einer Art trotzigem Humor, ein Clown, der die rote Nase der Fröhlichkeit trägt wie eine Maske. Ein Heimatloser. „Ich habe mich nie geschämt, illegal zu sein“, sagt er trotzig, während er die Königstraße hinaufgeht. Natürlich in der Mitte, dort, wo die Polizei nicht kontrolliert. Vorsicht ist ihm längst zur zweiten Natur geworden. Und nun haben sie ihn doch erwischt.

Sie schickten Yassin zur Rückkehrhilfe der Stadt Stuttgart. Genauer gesagt zu Gert Lienig. Der 58-Jährige arbeitet seit 25 Jahren in der Flüchtlingshilfe, seit 2006 hat der gelernte Lehrer einen Job bei der Fachstelle Migration, die von der Kommune, dem Land und der EU finanziert wird. Seine Aufgabe ist es, den rechtlichen Hintergrund der Migranten zu klären und ihnen Hilfe bei der Rückkehr anzubieten. „Die Leute kommen zu mir, wenn Hoffnungen, Träume oder Wünsche nicht in Erfüllung gegangen sind“, sagt Lienig in seinem Büro in der Eberhardstraße. Etwa, wenn eine Ehe gescheitert und damit auch der Aufenthalt geplatzt ist. Wenn eine Kranke daheim bei ihrer Familie sterben will, wie die krebskranke Frau, der er half, auszufliegen in ihr Heimatland Ghana. Wer ihn so reden hört in seinem kargen Behördenzimmer, merkt, wie ihm diese Schicksale unter die Haut gehen. Auch Yassin ist bei ihm gelandet, als er geschnappt wurde. Ihm, den Lienig für „sehr gut integriert in die deutsche Gesellschaft“ hält, hat er erklärt, wie das gehen soll mit der Reintegration in Algerien. Manchmal, seufzt Lienig, würde er sich wünschen, dass es – wie in Spanien oder Italien – auch in Deutschland eine regelmäßige Amnestie gäbe für Illegale, die schon lange im Land leben. Für solche wie Yassin.

Yassin, der Geist, will nicht zurück nach Algerien. Kann nicht zurück in seine alte Heimat, die längst keine mehr ist, weil er sich immer mehr entfernt hat, je mehr er sich in Deutschland eingefunden hat. „Was heißt das: Reintegration?“, fragt der Ex-Algerier. Er bestellt ein Bier und hält die Flasche in beiden Händen. Es ist Karfreitag, die Sonne scheint, die arabischen Bekannten am Nachbartisch sollen nicht sehen, dass er Alkohol trinkt. Reintegration – dieses Wort hat er zum ersten Mal aus dem Mund von Gert Lienig gehört. Aber was soll das heißen, fragt er sich, und nimmt einen Schluck aus der Flasche: „Dass ich mir jetzt einen 22 Zentimeter langen Bart wachsen lasse? Dass meine Frau eine Burka trägt? Dass ich Juden hassen und keinen Alkohol mehr trinken soll?“ Yassin hat in Deutschland viel gelernt. Toleranz. Liberalität. Aufgeschlossenheit. Er hat sich hier integriert. Was soll er mit all diesen neu erworbenen Werten in Algerien? Manchmal fühlt sich Yassin heimatlos.

In Chemnitz bekam er gleich eine Bierflasche an den Kopf

Als er kurz nach seinem Abitur in Deutschland ankam, wurde der 21-Jährige nicht eben freundlich aufgenommen. Zunächst beantragte er Asyl in Karlsruhe. Dort schickte man ihn nach Chemnitz. Das war 1996, vier Jahre nach dem Mordanschlag in Mölln und dem Pogrom von Rostock, den Anschlägen, die sich gegen Ausländer und Asylbewerber richteten. Als Yassin mitten in der Nacht in Chemnitz aus dem Bus stieg, flog ihm aus einem vorbeifahrenden Auto eine Bierflasche an den Kopf. Die Narbe an der Wange ist heute noch zu sehen. „Ich bin nicht aus Algerien abgehauen, um das hier zu haben“, sagt er heute. Er ging heimlich wieder zurück in den Westen. Er verließ den ihm zugewiesenen Platz. Und damit war er illegal.

Ein Geist hat keine Zukunft. Ein Illegaler lebt allenfalls in der Gegenwart. Er muss spontan sein, flexibel, reagieren können, jederzeit umziehen, in eine andere Wohnung, eine andere Stadt. Wer Yassin fragt, wie er sich seine Zukunft vorstellt, erntet nur ein hilfloses Schulterzucken. Ob er eine Familie will, Kinder, eine feste Wohnung? Erneutes Schulterzucken. Das alles kann er sich nicht vorstellen. Wer flexibel sein muss, hat keinen Plan. Was nützt es schon, einen Plan zu haben, wenn er so leicht durchkreuzt werden kann? Zur falschen Zeit am falschen Ort, und schon sind Pläne nicht mehr als geplatzte Träume. Yassin verbietet es sich, zu träumen.

Bis zu einer Million illegale Einwanderer leben in Deutschland. In Europa sind es nach Schätzungen des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts 2,8 bis 6 Millionen Menschen. Viele Deutsche folgen der schlichten Gleichung illegal gleich kriminell. Doch meist sind Papierlose schlicht Menschen, die ihrer Familie folgen. Die vor Gewalt fliehen. Die Arbeit suchen.

Werner Baumgarten kennt viele solcher Fälle. In der Beratungsstelle des Stuttgarter Asylpfarrers sitzen sie immer wieder, Menschen ohne gültigen Aufenthalt in Deutschland. Der 61-Jährige arbeitet seit 30 Jahren mit Flüchtlingen. Er weiß, dass das Leben in der Illegalität zermürbt, kaputt macht. Dass es manchmal so deformiert, dass aus Opfern Täter werden. Doch viel öfter sitzen hier verzweifelte Geister, die sich in der Grauzone mehr schlecht als recht durchschlagen.

Erst kürzlich hatte Werner Baumgarten wieder einen solchen Geist in dem gemütlichen Raum in der Vogelsangstraße. Er hat dem Bengalen nach einem langen Gespräch einfach einen Platz zum Ausruhen angeboten. Dort hat der Mann, nach neun langen Jahren der Unsicherheit, zum ersten Mal wieder entspannt geschlafen. „Der Mensch braucht eine Vertrauenskultur“, sagt Baumgarten. Er hat im vergangenen Jahr für sein Engagement im Arbeitskreis Asyl den Stuttgarter Friedenspreis verliehen bekommen. Doch auch der engagierte Kirchenmann kennt nicht die Zahl der Illegalen in Stuttgart. Er weiß nur, dass er seit Beginn des Jahres schon zehn Menschen ohne Papiere verzweifelt hier auf diesem Sessel saßen. Das Problem ist da. Doch Geister sind schwer zu fassen.

Jetzt hofft man auch auf Grün-Rot

Nun sitzt Werner Baumgarten in seinem Beratungszimmer in der Vogelsangstraße, an den Wänden allerlei Zeitungsausschnitte seiner Arbeit, und hofft auf Grün-Rot. Darauf, dass die zwei baden-württembergischen Abschiebegefängnisse in Schwäbisch Gmünd und Mannheim aufgelöst werden. Darauf, dass der Umgang mit Menschen ohne Aufenthalt fairer wird. Der Kirchenmann setzt auf den jungen SPD-Vorsitzenden Nils Schmid, den Mann, der nun Finanz- und Wirtschaftsminister der neuen Regierung werden soll, dessen Frau aus einer Migrantenfamilie stammt und der bei Baumgartens Vater in die Schule gegangen ist. Baumgarten hat Schmid drei Tage nach der Wahl einen Brief geschrieben und gleich sieben Wünsche formuliert. Bisher hat er noch keine Antwort erhalten.

Auch die katholische Bischofskonferenz hat sich auf der VII. Jahrestagung Illegalität für einen menschenrechtlich akzeptablen Umgang mit Menschen ohne Papiere stark gemacht. „Ich bin überzeugt, dass Gesellschaft und Politik bereit sind, die Spannung zwischen Ordnungsrecht und grundlegenden sozialen Rechten im Sinne pragmatischer Lösungen (…) auszuhalten“, so der Vorsitzende des katholischen Forums „Leben in der Illegalität“, Norbert Trelle.

Für solch pragmatische Lösungen machen sich in Stuttgart auch die im Arbeitskreis „Menschen in der Illegalität“ zusammengeschlossenen Institutionen stark. Sie kennen sich, sie tauschen sich aus, vermitteln die hilfesuchenden Migranten weiter: die Männer und Frauen des AK Asyl, der Rückkehrhilfe, der Malteser Migranten-Medizin oder der evangelischen Gesellschaft. Sie helfen bei rechtlichen und sozialen Problemen, bei Krankheit und bei der Rückkehr in die alte Heimat, aus der die Papierlosen einst aufgebrochen sind, ihr Glück zu suchen. Yassin hat seine Krankheiten immer selbst behandelt. Etwa seine gebrochene Nase oder seine schwere Grippe. Erst jetzt, bei der Rückkehrhilfe, hat er erfahren, dass die Ärzte der Malteser nicht nach Papieren und Geld fragen und hier in Stuttgart seit 2008 kostenlos medizinische Hilfe anbieten.

Diese Einsamkeit des Fremden

Yassin ist zerrissen. Er will in Stuttgart bleiben. Einerseits. Am liebsten mit Papieren. Doch andererseits ist da diese Einsamkeit des Fremden, die an Weihnachten besonders schlimm ist. Das Netzwerk der Migrantengemeinde in Stuttgart mag noch so groß sein, an Weihnachten feiern alle Freunde und Bekannten mit ihren Familien. Dann bleibt Yassin allein. Nach 15 Jahren weiß er, wie es sich anfühlt, wenn die Einsamkeit nach einem greift. Und dass sie an Weihnachten besonders aggressiv ist. Er weiß aber, wie er sie in Schach halten kann. Jetzt leiht er sich an Weihnachten DVDs und verbringt die Weihnachtsfeiertage auch mal mit Nicolas Cage als „Bad Lieutenant“. Dem bösen Bullen, der doch irgendwie einen guten Kern hat.

Yassin ist nicht der gute Mensch von Stuttgart. Nicht immer geht er einfach zur Seite, wenn das Leben ihm krumm kommt, wenn ihn einer schräg anmacht. Er ist als junger Mann vor der Gewalt in Algerien geflohen, um in Deutschland sicherer leben zu können. Einerseits. Doch andererseits weiß er manchmal nicht so genau, ob diese Rechnung aufgegangen ist, ob das Leben als Illegaler nicht zu stark von der dauernden Angst vor Entdeckung geprägt war. „In Algerien war wenigstens die arabische Sauna eine Oase, in der man sich entspannen konnte“, erzählt Yassin sehnsüchtig. Manchmal geistert Yassin nun zwischen zwei Welten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen