: Das große Gespräch
Im weiten Feld zwischen Recherche und Fantasterei: Alexander Kluges schönes und hellsichtiges neues Buch erzählt seine „Geschichten vom Kino“
VON STEFAN GRISSEMANN
Wenn sich ein kreativer Universalist wie Alexander Kluge auf eine Auseinandersetzung mit dem Kino einlässt, ist mit eigenwilligen Ergebnissen zu rechnen. Leichthin geht Kluge, gerade 75 Jahre alt geworden, in seinem jüngsten Suhrkamp-Band, in seinen „Geschichten vom Kino“, an die Grenzen des Mediums (und gern auch darüber hinaus), lässt sich dabei zu bizarren Denkspielen verführen: Könnte es sein, dass die Lichtblitze der Französischen Revolution als eine Art vorfilmischer Kriegsfilm in 218 Lichtjahren Entfernung zu empfangen wären? Und warum sollte das Ansinnen, nicht Storys und Schicksale, sondern schlicht Unterschiede verfilmen zu wollen, so unrealistisch sein?
Der Krieg ist, bei aller Ironie, das ernste Zentrum dieses Buchs. Umso erstaunlicher nimmt sich die stilistische und konzeptuelle Leichtigkeit aus, mit der dieser Autor jenes Territorium, das er in den Sechziger-und Siebzigerjahren als einer der Gründerväter des Neuen Deutschen Films so souverän vermessen hat, nun literarisch umkreist.
Die primitive diversity des frühen Films, schreibt Kluge, liege ihm besonders am Herzen: wegen der Unreinheit, des anarchischen Potenzials der jungen Kinokunst, noch ehe die Normgeschichtenerzähler und Großproduzenten sich des neuen Mediums bemächtigt hatten.
Wie gewohnt teilt Kluge seine Reflexionen zum Kino in short stories, Erzählfragmente, kleine Gespräche und knappe Handlungsumrisse ein: Die Verdichtung ist das Hauptinstrument dieses Autors, der sich im weiten Feld zwischen Recherche und Fantasterei frei bewegt. In seiner Assoziationssehnsucht ist Kluge bekanntlich so schnell wie präzise: Die Wege, die ihn von Richard Wagner zu Jean-Luc Godard führen und von Othello über Elektra zu Walt Disney, kennt er – buchstäblich – wie im Schlaf. Seine Konzentration stelle er augenblicklich her, sagt er, „so, wie man einschläft. Ich lösche alle übrigen Eindrücke und schaue nach innen.“ Das funktioniere immer, auf die Minute genau, auch seine Mutter habe das schon gekonnt. Als Jurist, Filmarbeiter, Kunstliebhaber, Opernexperte, Theoretiker und Literat ist Alexander Kluge einer der Letzten seiner Art: ein Gelehrter alter Schule, dabei ohne jede Scheu vor der Berührung mit dem Zeitgemäßen, den Kunsttabubrüchen und Denkregelverstößen. In seinen Kinofilmen hat er mit deutscher Geschichte abgerechnet, in seinen Kulturmagazinen mit der faulen Übereinkunft, dass Kunstsinn und Intelligenz im Privatfernsehen keine Basis hätten.
In Kluges Arbeit laufen Literatur, Musik, Film, Fernsehen und Wissenschaft unaufhörlich ineinander: Viele seiner Musikmagazine handeln auf sehr filmische Weise von der Oper, während er sein Kino gern musikalisch-reflexiv gestaltet. Im Grunde arbeitet Alexander Kluge auch im Fernsehen an einem einzigen synästhetischen Großunternehmen. Das Schreiben hat dabei eine fixierte Position. Seinem mehrtausendseitigen erzählerischen Werk, das Kluge zwischen 2000 und 2006 in drei Bänden bei Suhrkamp publiziert hat („Chronik der Gefühle“, „Die Lücke, die der Teufel lässt“, „Tür an Tür mit einem anderen Leben“), fügt er nun seine „Geschichten vom Kino“ hinzu, ausgehend von eigenen Erlebnissen – Kluge war 1958 Assistent des Regisseurs Fritz Lang, als dieser „Der Tiger von Eschnapur“ drehte – und von dichterisch ausgebauten filmhistorischen Fakten.
Eine (schreiberische) Rückkehr zum Kino mag Kluge darin nicht sehen: Schließlich habe er den Film „nie verlassen“. Er sei in den Achtzigerjahren nur vom „Kino der Autoren“ zum „Fernsehen der Autoren“ übergegangen – und zwar bruchlos. Die Filmgeschichte bereist Kluge chronologisch, vom frühen Kino bis in die späten Siebziger, in den Deutschen Herbst, um unterwegs von verbotenen Attraktionen, entfesselten Leidenschaften und tiefer Todessehnsucht zu berichten: Vieldeutig mischen sich in seinen Textminiaturen Pop und politics, Soldatisches und Entertainment, Krieg und Schlager, Voyeurismus und Star-Zuhälterei. Das scheinbar Geringste, etwa das Spiel des Sonnenlichts an einer Wand des Berliner CCC-Studiogeländes, findet in ihm jederzeit einen liebevollen Chronisten. Als Methode der dialektischen Öffnung ist ihm jedoch das literarisch-filmische Selbstgespräch am nächsten: die dialogische Form, die Möglichkeit, alle Dinge aus mindestens zwei Blickwinkeln betrachten zu können.
Kluge begreift das Kino autobiografisch, geht erzählend von seinen Treffen mit Fritz Lang, dem berühmten Oberhausener Manifest und eigenen Dreharbeiten aus – dabei traktiert er das Persönliche mit den Mitteln seiner Kunst, verlängert das Faktische skrupellos ins Imaginäre. Die Frage etwa, ob man das Ende eines Krieges filmen könne, beantwortet der Autor mit seinem (kinoreifen) Abriss einer letzten Vorstellung in der Reichskanzlei, wo man 1945 noch Veit Harlans NS-Melodram „Opfergang“ vorführen lässt: eine der vielen wahren Begebenheiten, die Kluge literarisiert und dabei gespenstisch plastisch macht.
Mit lakonischem Witz und differenzierter, unsentimentaler Sprache lässt Kluge seinen Fantasien über das Kino ihren Lauf: Dem Grauen, das die Filme zeigen (oder das in ihnen wirkt), setzt er seinen unbedingten Glauben an das Wunder, die Utopien, die das Kino zu vermitteln weiß, entgegen.
Alexander Kluge: „Geschichten vom Kino“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007, 352 Seiten, 22,80 Euro
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