: Praktisch: mit Potenzial für alle
BERUFSSCHULEN Sie schaffen Chancengleichheit und beugen dem Fachkräftemangel vor. Achtzig Prozent der Deutschen qualifizieren sich darüber – weitgehend unbemerkt. Das sollte sich ändern, denn diese Leistungsträger werden künftig noch bedeutender
Berufliche Schulen bilden verstärkt allgemein aus: Im Jahr 2010 wurden nur 54 Prozent der Hauptschulabschlüsse an Hauptschulen erworben, auf Realschulen entfielen bloß 45 Prozent der mittleren Abschlüsse. Meistens wird der an den allgemeinbildenden Schulen erworbene Schulabschluss auf den Berufsschulen erhöht: 38,7 Prozent aller Hochschulzugangsberechtigungen wurden 2010 an einer beruflichen Schule erworben.
VON LARS KLAASSEN
Ein gefeierter Star ist sie nicht, aber ihre Quote absolute Spitze: 80 Prozent der deutschen Arbeitnehmer besuchen im Lauf ihrer Ausbildungsbiografie eine berufliche Schule. Wer nie dort war, weiß zumindest: Dort lernen vor allem Azubis neben der beruflichen Praxis im Betrieb noch etwas dazu. Das erfasst aber nur sehr grob einen sehr kleinen Ausschnitt der Realität. Cihan Büyükari etwa machte nach dem Abitur eine Mediatorenausbildung und sammelte zwei Jahre Berufserfahrung in sozialen Projekten. Danach absolvierte der Berliner einen Bachelorstudiengang in Soziologie. Und seit drei Monaten drückt er wieder die Schulbank. „Nach einer Vielzahl von Angeboten für unbezahlte Praktika habe ich mich nach Entwicklungsmöglichkeiten umgesehen“, sagt der 26-Jährige. Die Berufsschule bietet ihm nun die gesuchte Karriereperspektive.
Cihan Büyükari möchte sich auf Basis seiner bisherigen Qualifikationen weiterentwickeln, akademisch wie beruflich. Die Berufsschule ermöglicht dies. Bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wird er zum Steuerfachangestellten ausgebildet. Die duale Ausbildung findet parallel auch im Oberstufenzentrum Logistik, Touristik, Immobilien, Steuern (OSZ Lotis) statt. „Wenn ich den Abschluss hier gepackt habe, kann ich in nur anderthalb Jahren einen BWL-Bachelor an der Uni draufpacken“, sagt Büyükari. „Die fachliche Ausrichtung ergänzt sich gut mit meinen bisherigen Stationen, und künftig habe ich über den Beruf des Steuerfachangestellten hinaus noch weitergehende Möglichkeiten.“
Akademiker wie Büyükari sind an der OSZ Lotis keine Exoten, die sonderlich auffallen. Sie bilden eine Gruppe von vielen. Andere kommen ohne Qualifikation, machen den erweiterten Hauptschulabschluss und werden über Praktika an die Berufspraxis herangeführt. Über das berufliche Gymnasium wiederum werden Türen zu Hochschullaufbahnen geöffnet.
In ganz Deutschland umfasst die berufliche Bildung weit mehr als die Berufsschule, mit der die duale Ausbildung verbunden ist. Mit Bildungsgängen, die von Angeboten für Schulabbrecher bis hin zur hochqualifizierten Weiterbildung vergleichbar auf Hochschulniveau reichen, bieten die beruflichen Schulen ein Leistungsspektrum, das im übrigen Bildungssystem seinesgleichen sucht. Die OECD-Studie „Learning for Jobs“ bescheinigt der dualen Berufsausbildung in Deutschland eine erstklassige Qualifizierung von Absolventen. Diese sei unter anderem auf einen sich gegenseitig verstärkenden theorie- und praxisbasierten Lernansatz zurückzuführen.
Die beruflichen Schulen integrieren auf breiter Basis – und das auf zwei Ebenen: Zum einen bauen sie Brücken für den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt. „Das ist ein wichtiger Beitrag zur Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“, betont Gerd Roser, Referatsleiter für Berufliche Bildung, Weiterbildung und Sport der Kultusministerkonferenz. Darüber hinaus wenden sich berufliche Schulen auch an Adressaten, die sonst für das Bildungssystem als verloren gelten. „Die Durchlässigkeit und damit die Chancengerechtigkeit innerhalb des Bildungsgesamtsystems in Deutschland“, so Roser, „wird maßgeblich durch die differenzierten und zielgruppenorientierten Bildungsgänge der beruflichen Schulen sichergestellt.“ Insbesondere jene mitzunehmen, die bislang keinen Schulabschluss haben, bedarf eines intensiven Einsatzes. „In der integrierten Berufsausbildungsvorbereitung arbeiten wir mit zum Teil sehr kleinen Klassenverbänden“, erläutert Vera Jaspers, Schulleiterin der OSZ Lotis. „Zudem wird jeder dieser Schüler von einem Lehrer als persönlichem Mentor betreut.“
Auch bei der Aufgabe, den prognostizierten Fachkräftemangel abzuwenden, spielt die berufliche Bildung eine zentrale Rolle. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) wird schon heute in einigen Bereichen dem Fachkräftemangel vorgebeugt, weil viele Erwerbstätige nicht in ihrem erlernten Beruf verweilen, sondern in ein anderes Berufshauptfeld wechseln. Diesen Grad der beruflichen Flexibilität ermöglicht vor allem die berufliche Bildung. Das BIBB prognostiziert für das mittlere Qualifikationsniveau, „dass spätestens mit Beginn der 2020er Jahre der Bedarf nicht mehr gedeckt wäre und massive Fachkräfteengpässe auftreten würden.“ Eben dieser Bereich gehört zu den Kernkompetenzen der beruflichen Bildung. Der wichtigen Aufgabe, jene ohne formalen Berufsabschluss abzuholen und dorthin zu führen, kommen die Berufsschulen ebenfalls nach. Doch vor allem in den gewerblich-technischen Fächern leiden die Berufsschulen unter Lehrermangel.
Akut macht sich das bereits im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) bemerkbar. Das heißt: Wer dort qualifiziert ist, hat große Chancen auf einen gut dotierten Job in der Wirtschaft. „Umso schwerer tun sich vor diesem Hintergrund Schulen, Lehrer zu gewinnen“, erläutert Roser. „Im Staatsdienst sind die Jobs zwar sicher, aber meist nicht so gut bezahlt wie in der Wirtschaft.“ Der Fachkräftemangel verschärft also den Lehrermangel.
„Einige Bundesländer sparen zu sehr und konkurrieren dann miteinander, um freie Stellen besetzen zu können“, kritisiert Tobias Pamp, stellvertretender Landesvorsitzender des Bundesverbands der Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen in Berlin. „Weil etwa Berlin weniger zahlt als viele andere Bundesländer, wandern die gefragten Kandidaten dorthin ab.“ Um mehr Lehrer für die betreffenden Fächer zu gewinnen, sollen bundesweit auch Quereinsteiger qualifiziert werden. Das Referendariat wird aber gering vergütet, ist also unattraktiv. Deshalb wurde auch die Möglichkeit des Direkteinstiegs geschaffen. „Wenn ein gelernter Forstwirt dann sofort ausbildungsbegleitend Bautechnik unterrichten soll, ist das problematisch, gibt Pamp zu bedenken. „Die Leute sind zwar motiviert, aber andere Kollegen müssen da doch einiges auffangen.“
Die Qualität der beruflichen Bildung steht und fällt mit dem Unterricht. Den müssen die Länder sich etwas kosten lassen. Denn die unscheinbaren, aber leistungsfähigen Berufsschulen werden künftig mehr denn je gebraucht.
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